Orpheus und Eurydike – eine politische Liebesgeschichte

Hans Werner Henze besucht die Premiere seines „Orpheus“-Balletts in Kassel

Kassel, 17/09/2012

Dass in Kassel diesmal bei der Spielzeiteröffnung der Tanz den Vorrang vor der Oper hat, kommt nicht von ungefähr: Tanztheaterchef Johannes Wieland hat Hans Werner Henzes „Orpheus“-Ballett auf ein Libretto von Edward Bond choreografiert. Der greise, gebrechliche Doyen der zeitgenössischen Musik reiste – von seiner Oper „Wir kommen zum Fluß“ kommend – an, um dem mutigen Unterfangen und der unbefangen frischen Kompanie zu applaudieren. Das Premierenpublikum feierte ihn wie auch die Künstler auf der Bühne am Samstag euphorisch.

Henzes „Orpheus“ tut sich wesentlich schwerer als seine „Undine“ und einige der Ballett-Einakter. Das liegt vor allem an Bonds Text, aber nicht allein. Nach der nicht sonderlich erfolgreichen Uraufführung – 1979 als Auftragswerk des Stuttgarter Balletts in der Choreografie des damals blutjungen William Forsythe – schrieb Henze die Musik für kleineres Orchester um. Wuchtig und pathetisch wirkt sie stellenweise durch den Einsatz einer Orgel immer noch, aber sonst – trotz mancher Längen – schlank und theatral spritzig. Diese sogenannte „Wiener Fassung“ (für Ruth Berghaus‘ Inszenierung von 1986) erklingt auch – vorzüglich! – jetzt in Kassel. GMD Patrik Ringborg dirigierte bereits die Deutsche Erstaufführung (zu der Choreografie von Heinz Spoerli) bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2001 an Henze in Essen und regte die Kasseler Einstudierung an.

Ein Wagnis. Denn der Folkwang-Absolvent Wieland (mit jahrelanger New York-Erfahrung) führt keine Ballettkompanie, aber überzeugt immer wieder mit einem ausgesprochen modernen, ungespreizt natürlichen, sehr niveauvollen Tanztheater. Als „politische Liebesgeschichte“ beschreibt er Bonds Libretto für Henzes Musik: Orpheus als Hoffnungsträger für eine friedvolle Menschheit. In der sensiblen, respektvollen Choreografie kommt Orpheus (Rémi Benard) als liebenswert unverstellter junger Zeitgenosse wie selbstverständlich über. Getanzt wird von der ganzen Kompanie, ergänzt durch Statisten, mit alltäglichen Gesten und Sprüngen, Reigen-Formationen und Discodance. Streetdance-Sequenzen wirken besonders griffig in Orpheus‘ Verzweiflungs-Solo. Gott Apoll (Evangelos Poulinas), samt Musengefolge in Glitzergarderobe wie zum Showauftritt, scheint – witzig ironisch? – förmlich zu schweben.

Die Kämpfe von Chaos (Schlagwerk) und Harmonie (Streicher) werden diesmal musikalisch so ganz anders transparent und schlüssig als in Spoerlis neoklassischer Fassung des Balletts, die vor allem durch die Negierung des hoffnungsvollen Schlusses irritierte – da Henze Bonds Idee, Orpheus befriede die Welt durch eine ganz neue Musik, mit einigen wenigen berückend schönen lyrischen Schlussakkorden unterstreicht. Bonds politisches Anliegen von einer friedfertigen Menschheit nachzuvollziehen, ist trotzdem nicht einfach. Hilfreich sind die „Gedankensplitter zum Inhalt“ im Programmfaltblatt und Henzes Anmerkungen zur Zuordnung der Instrumente: Orpheus wird von Gitarre begleitet, Eurydike von Harfe und Cembalo, Apoll von den Bläsern. Ein Übriges zum Verständnis tragen das Bühnenbild von Steph Burger und die Kostüme von Evelyn Schönwald bei.

Das erste der sechs Bilder zeigt eine antike Ruinenlandschaft: Fragmente einer riesigen Apoll-Statue liegen zwischen blühendem Mohn, wie heutige Touristen sie aus Griechenland oder der Türkei kennen. Unbekümmert, grob, mit laut knallenden Absätzen bevölkern Menschen in einfacher Sommerkleidung tanzend und lachend das Areal. Orpheus sieht Eurydike (zauberhaft jung: Wencke Kriemer de Matos). Mit kindlicher Scheu umspielen sie einander – bis eine Gruppe Randalierer und wilder Tiere hereinstürmt. Brutalität, Aggressivität, Vergewaltigung und Mord greifen um. Unter den Toten: Eurydike. Die Wächter des Totenreichs reklamieren (wie Mafiosi) ihre Beute. Apoll stellt sich schützend vor Orpheus. An der Rampe entrollen sich von oben fünf Schnüre – Saiten der Leier, mit deren Erklingen der Sänger zum Friedensstifter werden soll. Aber er will sich nicht mit Eurydikes Tod abfinden. Im Reich des geflügelten Hades (mit Gattin Persephone und kleinem Sohn) wird er Zeuge grausamer Kämpfe der Seelen gegen das Ertrinken in den brausenden Fluten des Styx. Apoll rettet Orpheus aus seiner ohnmächtigen Wut, die ihn auch die Leier zerstören ließ, weist ihm – vereint mit Eurydike und allen anderen – den Weg zu einer neuen „Musik“.

Wie Henze im 3. Bild Monteverdis „Orfeo“ zitiert, so schlägt auch Wieland mit der lädierten Apollo-Statue den Bogen zurück zu unseren Altvorderen und findet zu Henzes dissonanten Klängen Bilder aus unserem Heute, die jeder verstehen kann. Wer sich von dem wohlbekannten tragischen Orpheus-Mythos löst, wird eine kleine Sternstunde zeitgenössischen Theaters genießen können. Denn erst diese Tanztheater-Choreografie macht Bonds Libretto und Henzes „Ballettmusik“, über 30 Jahre nach der Entstehung, plausibel.
 

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