Johannes Wielands „perspektive“ im renovierten Staatstheater Kassel

13 Tänzer, 7 Statisten und der Intendant

Kassel, 09/05/2007

Tanztheater ist, wenn... z. B. in Kassel 13 Tänzer, 7 Statisten und der Intendant, seines Zeichens Schauspieldirektor und passionierter Schauspieler, sich zusammen tun. Es kommt auch auf dem Theater, wie im richtigen Leben, auf die Perspektive an, aus der wir Alltagssituationen und Konstellationen betrachten. Alles ist relativ. Jede Medaille hat zwei Seiten, jedes Schachbrett den gleichen Satz schwarzer und weißer Figuren. Da werden Freunde zu Kontrahenten – zumal in Anwesenheit der höchst attraktiven Blondine, die dient, wenn sie soll, und reglos sitzt, wenn die Männer über den nächsten Schachzug grübeln. An dieser faszinierenden Szene aus einem uralten Hollywood-Film hängt Johannes Wieland seine neue Choreografie „perspektive“ auf. Nach dem Einstand des deutschen Amerika-Heimkehrers mit den beiden witzigen Kurzchoreografien „reporter“ / „freie radikale“ (Wiederaufnahme war jetzt im renovierten Schauspielhaus) wagt er sich mit seiner kleinen Truppe auf die große Bühne des Staatstheaters – also da, wo meist große Oper gespielt wird. Fast immer ohne Balletteinlage heutzutage. Nun also Tanztheater. Da tun sich Gräben auf. Furchtlos ist dieser Choreograf – witzig und intelligent. Schon der Titel signalisiert ja Ambivalenz: „perspektive“, klein geschrieben, aber mit k anstelle des englischen c. Das tut so weh wie etwa das Wortungetüm „Infotainment“, macht aber immerhin neugierig.

Wieland bietet den Zuschauern 90 rätselhafte Minuten praller zeitgenössischer Kunst – Gourmet-Häppchen menschlichen Verhaltens aus allen Sparten – pardon: allen Perspektiven. Im Kleinen Schwarzen und auf Pumps treten die Tänzerinnen am Anfang auf, die Tänzer im dunklen Anzug, zickig bis griesgrämig ihr Mienenspiel. Später (nach den Sitzungen auf der Couch des Psychiaters) geht’s fröhlicher zu – barfuss, in Flatterkleidchen, weißen Hemden, strahlende Gesichter bei wunderbaren Solo-Tänzen. Nur einer ist traurig: der deutsche Liebhaber, der so rührend linkisch nach seiner großen Liebe im Hollywood-Stil suchte, geht deprimiert von der Bühne ab: Thomas Bockelmann spielt das Spiel seines neuen Tanzmachers perfekt mit. Der hat keine Not, die riesige Bühne für seine faszinierenden Bilder und Visionen effektvoll zu nutzen.

Viel zu gucken gibt’s die ganzen pausenlosen, anstrengenden 90 Minuten: erst Leinwandflimmern, dann Schauspielszenen und immer öfter Solotanz-Sequenzen und akrobatische Nummern mit schwarzen Stühlen und Tischen zu einem Soundtrack aus Hollywood-Songs der Andrew Sisters, Nancy-Sinatra-Rap und Sphärenklängen. Die Bühne lässt Wieland mitspielten: am Anfang als leere Fläche mit Kulissengängen wie für eine klassische Ballettgala, später nackt. Zwischendrin hängen drei Tänzerinnen kopfüber vom Schnürboden, während unten Tänzer Schach spielen – eine grandiose Replik auf die Filmszene. Schließlich bricht der Bühnenboden in der Mitte entzwei: vorn eine schwarze Fläche, hinten ist's heller. Zweimal setzt der Choreograph zum Finale an, holt dann aber doch nochmals zu einer neuen Idee aus. Johannes Wieland packt vieles in seinen zweiten Kasseler Tanzabend, zum Glück auch viele Soli für seine (vorwiegend Folkwang-geschulten) Tänzer.

Kommentare

Noch keine Beiträge