Zwang zur Konzentration

Das SideBySide Internet Tanzfestival 2012

Düsseldorf, 02/09/2012

Schauplätze, wie sie verschiedener kaum sein könnten: trocken gelegtes Schwimmbad, Bühnenfläche mit Draufblick, unbestimmter Raum, Traumsphäre. Ebenso unterschiedlich sind die fünf, je maximal 4 Minuten langen Choreografien beim achten SideBySide Internet Tanzfestival 2012, von einer Jury ausgesucht aus den eingeschickten Arbeiten von rund 100 Bewerber/Innen, vor allem aus Europa und den USA, aber auch ein paar aus Lateinamerika und Asien. Spezifische Besonderheiten des Festivals sind die selbstverständliche Internationalität, der Zwang zur Konzentration bei maximal vier Minuten Dauer je Stück. Außerdem die Chance, sich als Zuschauer/In die Stücke beliebig oft anzusehen und schließlich mit Sternchen (eins bis zu fünf) zu beurteilen. Vergeben werden Preise von insgesamt 3000 €. Bis zum 31.Oktober ist die Internetseite www.side-by-side.net/de/festival/2012 geöffnet.

Von raffiniert aufgegliedert über textlastig bis rührend naiv (oder kühl kalkuliert) und schließlich zu extrem ruhelos sowie schnörkellos direkt präsentieren sich in diesem Jahr Anna Koblova (Russland, geb. 1983), Audrey Bergeron (Kanada, geb. 1982), Kadir Memis (Türkei/Deutschland, geb. 1974), Linda Magnifico (Italien/Schweiz, geb. 1970) und Sidra Bell (USA, geb. 1979). Mir stellt sich wie in jedem Jahr die Frage: Schafft es eine(r) von ihnen, erfolgreich auf ein größeres Format mit erheblich längerer Dauer und mit mehr Tänzer/Innen um- oder aufzusteigen? Textlastig „Grief point“ (3:42, Sidra Bell) verfolgt die zwei Linien Tanz (Solo: Moo Kim) und Text. Beide transportieren eine melancholische Stimmung. Wie das Taumeln eines Verzweifelten muten die Bewegungen an, von Moo Kim mit stoischer Miene konzentriert ausgeführt. Als ob er seinen Körper aufschneidet, fährt er mit den Armen am Körper entlang, zerteilt seinen Oberkörper. Langsame Drehung mit Biegung im Oberkörper. Am Boden quält er sich durch Posen. Regisseur Jean Christophe Blavier – ehemals Tänzer in Stuttgart – arbeitet mit starken Dunkel-Hell Kontrasten, mit dem Kippen des Bodens, schafft dadurch die ständige Ahnung einer lauernden Katastrophe. Im englischen Text – suggestiv, manchmal undeutlich gesprochen – wird diese Stimmung verstärkt,: „I don’t understand it at all – A bad reading of the situation – I’ve lost intrest in music“. Text und Tanz kommen sich irgendwie in die Quere, das eine lenkt vom anderen ab.

Dennoch ist „Grief Point“ bemerkenswert in seiner Konsequenz. Vier Sterne seltsame Faszination. Mit seiner hemmungslos romantischen Traumatmosphäre zeigt „Monologue – I am woman. I am flower“ (4 Minuten, Anna Koblova) den Kontrapunkt: Sie kreiert eine märchenhafte Atmosphäre mit sich überlappenden Projektionen, tanzt barfuß selber klassisch in einem mädchenhaften Kleid quasi in die Bilder hinein. Musik aus Sibelius’ Violinkonzert legt eine emotionale Tonspur, der sich Koblova rückhaltlos hingibt. Es mischen sich die meist ruhig fließenden Bewegungen auf der Bühne mit Filmsequenzen aus dem „realen“ Leben wie Fahrradfahren oder schaukeln. Eine rote Blume – wohl aus Stoff, übergroß – fällt auf die Fläche. Seitlich auf der Fläche liegend kontrastiert Koblova im Schlussbild als weiche Form mit der vorn ausgebreiteten Blume. Expressive Gebärden sprechen von „suffer and hope“, rufen allerdings auch befremdliche Gefühle auf: Meint sie das mit grandioser Naivität ernst oder ist es eine Form der Parodie? Spielt sie kalkuliert mit den sentimentalen Erwartungshaltungen der Zuschauer/Innen? Sei’s drum: „Monologue“ übt eine seltsame Faszination aus.

Kalkuliert: ein Stern. Grandios naiv: drei Sterne kühle Perfektion. „Maktub“ (3:16, Kadir Memis) operiert im leeren Bassin eines historischen Schwimmbades mit Bögen, Dämonenkopf, Balustrade, einem sakralen Bau nicht unähnlich. Frau und Mann (Andrea Böge, Kadir Memis) verschmelzen die verwendeten Stilelemente von Hiphop, Flamenco und Zexbek (türkischer Volkstanz); sie stellen sie nicht aus, sondern nutzen sie zu immer neuen Anläufen in ihrer Beziehung, getrieben von der rauen Stimme einer Bassklarinette, ergänzt durch perkussives Klatschen, gewürzt mit einem gefühlsseligen Aufschwung eines Orchesters. Beide im Schlabberlook, absolvieren sie die Miniabschnitte mit gelassener, ungerührter Genauigkeit: Sei es das Laufen, seitlich am Boden liegend, seien es wellenförmig bewegte Arme und Oberkörper, sei es die Drehung mit Impuls vom Partner. Die Kamera wechselt schnell die Ansicht, teilt mal den Arm von ihm, von ihr ab, sieht von oben zu oder geht am Boden auf Tuchfühlung. Den Bogen schlägt die Wiederholung der Eingangssequenz: Vorn ihre Hand, scharf gezogen, hinten seine verschwommene Hand. Zum Finale ist’s umgekehrt, nachdem sie ein Papier in seiner Hand brutal zerknüllt hat. Seine Hand bleibt vorn im Fokus, sie geht nach hinten ab. Geschickt auf den jeweiligen Punkt – oder die Punkte – gebracht, baut „Maktub“ eine spürbare Spannung zwischen den beiden auf – der kühlen Perfektion zum Trotz.

Fünf Sterne. Schnörkellos direkt Linda Magnifico verzichtet in seinem „Wave-S“ (4 Minuten) auf ausgefeilte Kameratechnik, lässt sein Stück schnörkellos direkt abbilden. Zwitschergeräusche, Knarzen und Tuckern bilden die durchlaufende Tongrundierung (Sasha Shlain), Akzente setzen Klangstöße, die sich auszubreiten scheinen wie die Wellen nach einem Steinwurf ins Wasser. Wellen wabern manchmal sichtbar durch das Bild, lösen eine Veränderung aus. Die Vierer-Gruppe Azusa Nishimura, Patricia Rotondaro, Giuliano Guerrini, Marcel Leemann kämpft sich durch, splittert sich auf in Dreier, Zweier, Solo. Keine Konstellation bleibt. Zu Viert verlagern sie mit Ausfällen, Dehnungen, Hebungen den Schwerpunkt der Gruppe. Zu zweit entwickeln die Frauen mit weichen Armen, fließenden Körperbewegungen synchrone Abläufe, während die Männer ungerührt einander verschieben – wie in einem Spiel. Zwischen aufleuchtenden Lichtgassen auf dem Boden (ähnlich einem überdimensionalen Zebrastreifen) versucht ein Paar das Miteinander, vergeblich wie die Vorigen. Zum Ende bildet das Quartett wieder eine kompakte Vierergruppe, die aber erodiert, bis nur noch einer übrig bleibt, um langsam im Dunkel zu versinken. So recht vom Fleck kommt „Wave-S“ nicht, wie mir scheint. Letztlich läuft es leer, weil die Schärfe der Konturierung von Situationen und Personen fehlt – trotz vielerlei Körperaktionen. Der Begleittext meint dazu: „The result is a complex entity that ... captures the audience...” Naja!

Drei Sterne. Extrem ruhelos In „Errances” (2:44 Minuten, Audrey Bergeron) ist den drei Tänzerinnen (Merryn Kritzinger, Roxane Duchesne-Roy, Susan Paulson) kaum ein Moment der Ruhe vergönnt. Mit sehr raschen Schnitten „zerlegt“ die Kamera die Körper der Frauen, holt Arme, Beine, Rumpf, Kopf und Füße nach vorn in die Großaufnahme, steigert die Dramatik. Ruhiger wird es, wenn sie als Trio synchron am Boden agieren, gleichzeitig das Spielbein unter dem sehr schräg aufgesetzten Standbein nach hinten durchstoßen, oder mit gespanntem, nach vorne gekippten Rücken quasi ins penchée einrasten, oder in der Senkrechten Drehungen aus dem Impuls starten. Die zirpende, dennoch kräftige Musik (Antoine Berthiaumes „Falling Skittles“) vermittelt eine ständige, nervöse Unruhe, durch die die Frauen angetrieben werden. Wenig Aufwand bei den Kostümen: „Schwarzweiß“ bestimmt den asketischen Ton; Kleider, lange Unterröcke, Hosen verschieben die Profile zwischen leicht und gewichtig, von feierlich zu dynamisch. Beim Endspurt der „Odyssey“ wechseln sich die plastischen Porträtfotos der Tänzerinnen ab mit verschwommenen Einschüben der drei als Gruppe. Dann: Ende. Ob das Publikum gesehen hat, welche der Tänzerinnen „has forgotten, who is in control and who just has fun”, wie es im Beitext heißt? Vier Sterne.

 

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