Ich versuche, die Leere zu finden

Der Choreograf Marco Goecke über „Orlando“, seine Karriere und das Weglassen

Stuttgart, 31/05/2010

Am Mittwoch hat im Stuttgarter Opernhaus „Orlando“ Premiere, das erste große Handlungsballett von Hauschoreograf Marco Goecke nach seiner ungewöhnlichen „Nussknacker“-Fassung vor vier Jahren. Virginia Woolfs fantasie- und humorvoller Roman über den englischen Edelmann Orlando, der sich vom Günstling Elisabeths I. zur erfolgreichen modernen Schriftstellerin wandelt, erschien 1928. Angela Reinhardt unterhielt sich mit Marco Goecke.

Redaktion: Sie sind in den Endproben von „Orlando“. Wie erzählt man diese merkwürdige Biografie eines Mannes, der mittendrin zur Frau wird und über Jahrhunderte weg lebt?

Marco Goecke: Ich habe eine schöne Entdeckung gemacht. Ich dachte, bei einem solchen Stoff muss man so richtig ausholen, mit großem Bühnenbild und so weiter, aber das braucht man überhaupt nicht. Als Choreograf, selbst da wo ich heute bin, gibt es immer noch ein großes Misstrauen sich selbst gegenüber, ob die Schritte auch etwas erzählen. Die Erkenntnis war, dass sich das alles erzählt, wenn man vielleicht ein bisschen ins Programmheft schaut und die Geschichte ein bisschen kennt. Aber es ist für mich sehr erleichternd, diesen ganzen Schnickschnack loszuwerden. Man muss schon wirklich brutal sein.

Redaktion: Der Roman ist ja eigentlich eher episodisch.

Marco Goecke: Ja, so bleibt das auch. Am Anfang folge ich der Geschichte ganz genau, also diesen paar Persönchen, an die sich Woolf geklammert hat. Es gibt ja auch Wiederholungen, zum Beispiel tauchen Figuren wieder auf. Aber es ist doch irgendwie eine Reise, und nur eine einzige Person, und es endet ganz schön. Also ich bin zufrieden. Aber den Erfolg, also etwas Rundes, das kann man nicht kalkulieren, auch bei so einem großen Werk arbeite ich blind. Ich schaffe einfach Material ran und hoffe, das im richtigen Moment formen zu können, damit es auch ineinandergreift.

Redaktion: Sie fangen also im Kleinen an?

Marco Goecke: Muss ich. In den ersten Wochen musste ich erst mal Schritte finden, bevor ich überhaupt über das Stück nachdenken konnte. Jetzt fange ich langsam damit an – ach, das passt ja zum Anfang, und diese Wiederholung … manchmal bin ich selbst überrascht. Ich würde es als Instinkt oder als was sehr Erdiges bezeichnen. Überhaupt nichts Gedachtes. Das ist eine ganz unheimliche Reise. Irgendwann merke ich, ich brauche da nur dran zu drehen, und dann fällt das so in eins. Jedenfalls hoffe ich, dass dieser Moment kommt.

Redaktion: Aber die Musikanordnung war sicher vorher da?

Marco Goecke: Das Werk von Michael Tippett ist ja einfach immens. Meine Dramaturgin Esther Dreesen-Schaback hat eine Vorauswahl getroffen, zusammen mit der Dirigentin Sian Edwards, die übrigens eine ganz tolle Frau ist. Dann haben wir uns langsam rangetastet. Es ist schöne Musik, weil Tippett einfach auch so vielseitig ist, der hat so viele verschiedene Sachen komponiert, auch richtig Dramatisches. Wir haben auch sehr viel Gesang drin.

Redaktion: Wie ist das, im Haus von John Cranko ein Handlungsballett zu choreografieren – geht man doch noch irgendwie mit diesen Traditionen oder auch Klischees des erzählenden Balletts um, oder wirft man sie einfach komplett über Bord?

Marco Goecke: Da erzählt ja auch die Ausstattung so viel, die Requisiten. Ich kann heute einfach nicht mehr mit einem Schinken oder einem Bierkrug auf der Bühne ankommen. Das sind Dinge, die in eine andere Erzählweise gehören. Das Übermaß, die Bilderflut, die wir in unserer Zeit haben, das war damals ja nicht so. Damals hat es mehr Spaß gemacht, Stücke so auszustatten, weil die Leute vielleicht außen ein leereres Leben hatten als wir heute, mit allem was wir konsumieren können.

Ich glaube, dass wir heute eher danach suchen, diese Leere wiederzufinden, um es vielleicht ein bisschen überzogen zu sagen: eine andere, eine tiefere Wahrheit als in diesem Wust aus Konsum, aus Bildern und Farben. Ich denke, dass diese Pracht heute gar keinen mehr so sehr beeindrucken würde. Es geht einfach rückwärts. Ich versuche, die Leere zu finden. Ich habe gemerkt, dass ich im Vergleich zu Cranko einfach Minimalist bin.

Redaktion: Aber nicht bei den Bewegungen …

Marco Goecke: Auch. Das ist einfach alles eine Spur weniger. Klar wird es auch einen Kuss geben. Es ist natürlich spaßig zu sehen, wie ich das wieder in meine Sprache übersetze. Geht man wirklich realistisch heran, wie in den Handlungsballetten, oder verforme ich das nochmal. Ich finde es schön, dass es in meiner Sprache stattfindet, die ich für mich gefunden habe. Ich bin sicher, dass viele Leute das nicht verstehen, diese Sprache muss man vielleicht erst lernen. Viele wollen es so erzählt haben, wie sie das kennen, aber man muss schon ein bisschen Fantasie mitbringen. Es gibt ja keine eigentliche Geschichte: Königin, Prinzessin, der Dichter, Krise, Schlafen, Schüsse, Aufwachen als Frau - so kurz hätte ich es auch gerne im Programmheft.

Aber dann bleibt natürlich die Frage: Warum ist Virginia Woolf so ein Genie, was steckt in dem Buch? Eigentlich gar nicht die Geschichte, sondern diese philosophischen Fragen, diese Bilder und diese Verzweiflung, sich zu fragen, was soll das alles. Darauf läuft's hinaus. Mann oder Frau, das hat sie ziemlich schnell abgehakt. Sie distanziert sich davon und sagt: egal ob Mann oder Frau. Wir sind ja alle alles, in jeder Sekunde sind wir alles und dann wieder nicht, heute so, morgen so. Diese ganzen Persönlichkeiten, die in uns stecken, darauf weist sie immer wieder hin.

Redaktion: Ist das Hauptthema nicht auch das lebenslange Dichten?

Marco Goecke: Es ist auch eine Künstlerbiografie. Das kann ich für mich sicherlich auch so beanspruchen, denn schon von Kindesbeinen an war mir klar, ich wollte einfach Künstler sein. Das war meine Rettung. Ich wollte nicht „normal leben“, wollte einfach was anderes machen.

Redaktion: Wann haben Sie das erste Mal dran geglaubt, dass es was werden könnte mit der Choreografie?

 

Marco Goecke: Mit mir? Also am Künstler habe ich nie gezweifelt, ich hatte überhaupt kein anderes Lebenskonzept. 2002 hatte ich dieses Stück „Demigods“ gemacht, das mir sehr gut gefiel. Ich glaube eigentlich bis heute nicht, dass das irgendwas mit mir geworden ist, wenn ich ehrlich bin. (lacht)

Redaktion: Aber seit „Sweet Sweet Sweet“, dem Stück mit den schwarzen Luftballons, läuft es doch wie verrückt – Sie haben zum Teil fünf Aufträge pro Jahr und Sie verkaufen Ihre Stücke auch ein zweites, drittes, viertes Mal, was vielen anderen Choreografen nicht gelingt.

Marco Goecke: Jemand hat mir gesagt: Bei der Konsequenz, mit der du gearbeitet hast, kannst Du Dich gar nicht beschweren, wie die Geschäfte gelaufen sind. Aber kleinere Häuser zum Beispiel melden sich überhaupt nicht mehr, obwohl ich da gerne mal was machen würde. Da sind eben schnell diese großen Namen reingerutscht, und wenn man beim NDT arbeitet oder in Monte-Carlo, dann fragt Cottbus nicht nach einem Stück. Aber wenn das ein interessantes Projekt ist, da bin ich überhaupt nicht eitel. In Deutschland habe ich so gut wie gar keine Angebote. Das geht alles jetzt nach Amerika, Kanada... Ich hab ja hier auch noch keinen Blumentopf gewonnen oder irgendwas, hier hat ja kein Hahn nach mir gekräht. Das sind aber manchmal auch Stücke, die ich heute nicht mehr sehen möchte. Andere Künstler können es in den Müll hauen, wenn es geschrieben oder gemalt ist, aber wir Choreografen haben halt das Problem, dass wir es zeigen müssen.

Redaktion: Bleibt denn nicht irgendwann automatisch das übrig, was gut ist?

Marco Goecke: Darüber habe ich mit Jiří Kylián viel gesprochen, der sich so langsam jetzt, wo er älter wird, mit seinen frühen Stücken anfreundet. Das ist für uns immer ein ganz großer Konflikt. Ich schau mir die meisten Sachen von mir ja nie wieder an. Ich habe neulich zu den Tänzern gesagt: noch gehört das Stück mir, weil ich immer noch auf der Bühne rumspringe. Irgendwann entfernt sich das einfach und das ist dann ein Abschied. Schauen Sie John Neumeier an: wahnsinnig, was der sich für ein Imperium aufgebaut hat. Ob ich so clever bin? Ich antworte mit Ingeborg Bachmann: „Sollen die anderen. Mein Teil, es soll verloren gehen“.

Ich glaube, je mehr man hat, desto schlimmer wird das alles. Mir ist das unangenehm, ich lebe gern von der Hand in den Mund. Ins Theater, was machen, nach Hause, verbeugen, fertig. Ich fand das auch an Pina Bausch immer so toll, die hatte ihr Leben lang kein Büro. Aber sie hat ja sämtliche Preise bekommen, und mit was für Menschen sie befreundet war, angefangen beim Dalai Lama. Trotzdem war da so eine Bodenständigkeit, so ein bittere Armut der Künstlerin.

Redaktion: Fast sämtliche Kritiker feiern Sie enthusiastisch. Nur das Publikum ist manchmal noch zögerlich oder buht sogar, wie in den Stuttgarter „Alben“. Tut das weh, oder ist es normal, dass es manchen Leuten einfach nicht gefällt?

Marco Goecke: Ja, das ist schon normal. Das Wichtigste für mich ist, dass es mir gefällt. Das war früher vielleicht auch anders. Buh heißt ja nicht, dass es schlecht ist, sondern dass die Leute sich ärgern. Natürlich möchten wir auch geliebt werden und Applaus bekommen. Ich habe hier in „Orlando“ Szenen auf Spitze und im Tutu, klar will ich auch was fürs Publikum tun. Das ist sozusagen mein Geschenk an die große Ballettstadt.

Redaktion: Warum die Wahl, einen Mann für die Mann/Frau-Rolle des Orlando zu nehmen? Sally Potter hatte im Film ja eine Frau als Hauptdarsteller für beide Geschlechter.

Marco Goecke: Ich bin ja choreografisch den Männern ohnehin näher als den Frauen. Ich habe nicht mit so vielen Frauen gearbeitet, die mich stark beeindruckt haben, wie das bei Männern der Fall ist, weil eben eine gewisse Kraft und die Muskulatur mich da mehr ansprechen. Frauen, auch gerade klassisch trainierte Frauen, sind da manchmal schon sehr lahm, zu weich, um diese winzigen Details zu schnappen. Ich habe ja auch nicht diese klassische Rollenverteilung, dass die eine das zarte Wesen ist und der andere der Starke, der heben muss. Die Frau ist bei mir gleichberechtigt, dementsprechend muss sie sich auch mutig bewegen. Natürlich hab ich da keine Probleme mit einer Katja Wünsche. Oder Bernice Coppieters, für die ich in Monaco ein Solo gemacht habe, das ist auch eine unglaubliche Tänzerin.

Redaktion: Wie ist denn Friedemann Vogel zu der Hauptrolle gekommen, er hat ja bisher eigentlich kaum in Ihren Balletten getanzt?

Marco Goecke: Wir hatten ja dieses Solo gemacht für Reid Andersons Geburtstagsgala, und er hat ihn mir dann empfohlen. Dann war ich erst bleich und dachte, Anderson will einen Star haben, weil ich nicht Star genug bin, um so einen Abend zu füllen. Ich hab da auch so meine Tiefs … Aber das war schon eine gewisse Weitsicht von ihm, weil Friedemann jemand ist, der einen Abend füllen und ein Handlungsballett tragen kann. Der beherrscht das ja einfach, das kostet ihn nichts, bei der Technik - das ist dann einfach die blanke Schönheit. Aber ich möchte gerne daran rütteln, was in ihm ist, manchmal wünsche ich mir was Düsteres oder was Zweifelndes. Ja, das ist ein spannender Typ, ein sehr intelligenter Junge. Wir haben sehr viel Spaß und es war eine ganz tolle Arbeit.

Wie immer „Orlando“ auch ausgeht: was wir in den letzten drei Monaten erreicht haben, ist schon eine ganze Menge, und wir sind sehr stolz darauf, diesen Weg gegangen zu sein.

Redaktion: Der Roman ist ja an vielen Stellen auch ironisch und satirisch. Sieht man das auf der Bühne?

Marco Goecke: Ich hoffe es! Aber wenn man Humor plant, dann geht das in die Hose. Douglas Lee spielt die Herzogin Harriet, unglaublich. Das ist ja eine ganz skurrile Rolle, mit Hasenohren und ganz verschroben.

Redaktion: Sie haben einige Ballets-Russes-Stücke gemacht in letzter Zeit - war das wegen des Jubiläums?

Marco Goecke: Wahrscheinlich. Hab ich gar nicht gemerkt. Jean-Christophe Maillot hatte mich gefragt, ob ich „Le Spectre de la Rose“ machen will. Ich bin immer ganz froh, wenn mir jemand was anbietet. Dann muss ich nicht alles aus mir selbst herausstampfen.

Redaktion: Im Rückblick gesehen: war es sehr mutig von Reid Anderson, Sie als Hauschoreograf zu engagieren? Hätte er das auch gemacht, wenn er mit Christian Spuck nicht schon einen neoklassischen Choreografen gehabt hätte?

Marco Goecke: Maillot hat zur mir gesagt: das hätte es sonst in keiner Ballettkompanie gegeben, dass dich jemand zum Hauschoreografen macht, das hätte sich keiner getraut. Ich wäre doch nicht in München oder in Stockholm oder sonstwo Hauschoreograf geworden. Ich glaube, dass Reid Anderson meine Arbeit sehr schätzt und auch mag, aber ich glaube, sie ist ihm auch ein bisschen suspekt. Er würde aber niemals sagen: ändere das und das. Ich hoffe, dass das hier irgendwie weitergeht, auch mit dem Publikum.


Redaktion: Wie geht es denn nach „Orlando“ weiter?

Marco Goecke: Ich arbeite nochmal in New York am Choreographic Institute, die haben zehnjähriges Jubiläum und mich eingeladen, weil ich doch auch Karriere gemacht habe. Dann natürlich weiter beim Scapino-Ballett in Rotterdam, außerdem beim Pacific Northwest Ballet in Seattle, Les Grand Ballets de Montreal und bei der Hauptkompanie des NDT.

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