„Twinkle & Shine“ von Pietro Coda, Tanz: Stefano Milione, Maria Sayrach Baró und Quentin Nabor

Brüchig

„Substanz – Aldebaran und Kassiopeia“ am Theater Hagen

Das Ensemble choreografiert selbst. Das Ergebnis ist dramaturgische Verwirrung. Am Ende macht aber ein schnöder Bürostuhl den entscheidenden Unterschied.

Hagen, 21/06/2025

Ein Bruch nach dem nächsten. Und trotzdem keine Bruchlandung. Das muss man erst mal hinkriegen. Das Tanzensemble des Theater Hagen hat sich selbst choreografisch ausprobiert. Und ganz unabhängig davon, wie viel Erfahrung die Eine oder der Andere diesbezüglich mitbringt, in diesem Fall ist die Herausforderung besonders groß: Das Publikum sitzt in der kleinen Spielstätte Opus an drei Seiten um die Tanzfläche herum. Soll heißen: Räumliches Denken und choreografieren ist angesagt, nicht einfach „nur“ Frontalunterricht. Dass dem nicht alle Arbeiten ganz gerecht werden und die meisten Szenen den frontalen Fokus durchspielen, ist für das Publikum offenbar kein Problem. Stattdessen ist in der Pause die Begeisterung nicht zu überhören, die Begeisterung über die Unmittelbarkeit, die Nähe, das Direkte. Keine Bühne, kein Guckkasten. Die Tänzer*innen performen direkt vor der Nase. Das kommt immer gut an. 

Sechs Arbeiten zeigt das Ensemble, die unter der Klammer „Aldebaran und Kassiopeia“ programmatischen Überbau haben sollen. Mit Sternen oder sonst irgendwas „dort oben“ hat sich aber keine der Arbeiten auseinandergesetzt. Statt in die Ferne geht der Blick vielmehr nach innen. Das überrascht nicht. Was sonst, wenn nicht Ausdruck innerer Befindlichkeiten ist Tanz? Also drehen sich die Arbeiten um das Miteinander zweier oder mehr Menschen, das Wollen, aber nicht Können, Ängste, Unsicherheiten, Wünsche, Sehnsüchte. 

Alle Arbeiten bleiben dabei aber vage, was eine dramaturgische Entwicklung anbelangt. Oft tritt ein Moment minutenlang auf der Stelle. Und fast, als wäre es eine Aufgabe gewesen, brechen alle Arbeiten ihre Dramaturgie unentwegt. Licht, Musik, Stimmung, Atmosphäre, Rhythmus: Immer wieder wird das Publikum von einer Regung in eine gänzlich andere geschmissen. Das wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. 

Akustische Fallhöhen

Das surreale Setting in „Twinkle & Shine“ von Pietro Coda etwa bringt zwei Tänzer mit anonymisierenden Masken, die wie die personifizierten Ängste einer Frau (Maria Sayrach Baró) wirken, die aus ihr aus ihr herausbrechen, sobald sie ihre Wohnungstür hinter sich schließt. Das hat auch komisch-groteske Momente, besonders dann, wenn ein Tänzer en travestie wie ein deus ex machina auf der Bildfläche auftaucht und alle Ängste vom Tisch fegt. Da wird der Stücktitel zum Imperativ. Nur fragt man sich angesichts des unvermittelt eintretenden Stimmungswechsels: Was hat die denn geraucht? Das Publikum wird da nicht mitgenommen. Trotzdem ist der Unterhaltungsfaktor da. Man sollte nur einfach loslassen. 

Sich die Frage zu stellen, wohin jede einzelne Arbeit will, ist also nicht direkt zielführend. Alle choreografischen Ansätze sind vertrautes Contemporary, die sich nicht aus dem Fenster lehnen. An diesem Punkt wird das Publikum also nicht überrascht. Akustisch aber desto eher. Die Fallhöhen zwischen Nina Simone und Chopin oder Purcell und Daft Punk sind enorm, besonders dann, wenn sie in so kurzen Arbeiten mehr oder minder direkt aufeinander stoßen. Das Publikum landet da jedes Mal ziemlich hart. Vor allem der cheesy 80’s-Synth-Pop von Daft Punk scheint besser zur Untermalung dessen geeignet, was Zirkusartisten bieten. Der Sound wirkt hier beliebig und ohne direkte dramaturgische Funktion.

Am weitesten entwickelt wirkt die letzte Arbeit des Abends. Quentin Nabor schickt in „Red Giant“ die Tänzer*innen in grauem Business-Outfit in ein unauffälliges Büro mit Schreibtisch, PC und Trinkwasserspender. Dort scheint aber jemand was in die Klimaanlage gekippt zu haben. Zumindest führen sich alle auf wie in einem Alptraum, irrational, emotional verwirrt und verwirrend. In dieser verstörenden Atmosphäre taucht plötzlich ein einzelner Luftballon auf, als hätte ihn Pennywise aus „ES“ mitgebracht. Soll aber einfach nur eine nette Büroparty sein. Also kleines, spitzes Hütchen aufgesetzt und mutig gelächelt. Muss ja, gell. Die Hüte werden durch immer größere und grotesker wirkende Modelle ersetzt. Die Atmosphäre kippt immer weiter ins Irreale. Zwischen schweren Klaviertönen hört man das Umblättern von Papierseiten.

Hier ergeben die dramaturgischen Brüche Sinn, zeigen einen Ausbruch aus jeglicher Logik und existenzieller Kohärenz. Als diese (Nicht-)Party schließlich im emotionalen Zusammenbruch einer Tänzerin ihren Tiefpunkt erreicht, wird diese von den „Kolleg*innen“ sanft quer auf einen Bürostuhl gepackt. Dessen Drehbewegungen schaffen auf völlig simple Weise ein verblüffend ästhetisches und damit das schönste Bild des Abends. Weniger ist bekanntlich mehr. Aber niemand hat behauptet, das sei einfach. 

 

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