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Vergangenes ins Heute holen

Der Abend „Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung.“ ist vom 30. März bis 1. April 2023 im Wiener brut nordwest zu sehen.

Der Verein „Lebendiges Tanzarchiv Wien“ beschäftigt sich aktuell unter der Leitung der Tanzhistorikerin Andrea Amort mit dem Werk Grete Wiesenthals.

Wien, 28/03/2023

Die Flüchtigkeit des Augenblicks ist gerade im Tanz evident. Wenn eine Bewegung passiert, ist sie schon wieder vorbei. Notationsmöglichkeiten gibt es, aber diese sind oft nicht ausreichend, um die Komplexität von Bewegungen festzuhalten. Erst mit der Erfindung des Filmes wurde es möglich, Tanz zu dokumentieren. Doch auch diese Aufnahmen sind oft ungeeignet, um wirklich eine Choreografie zu erlernen. Die Wiener Tanzhistorikerin Andrea Amort beschäftigt sich seit langem mit Vertreterinnen der Wiener Tanzmoderne. Einerseits auf der Theorieebene mit unter anderem einer losen Vortragsreihe und diversen Buchbeiträgen zu „Tanz im Exil“ sowie der sehr erfolgreichen Ausstellung „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ im Wiener Theatermuseum inklusiver umfangreicher Begleitpublikation. Andererseits mit Performanceprojekten wie „Hanna Berger: Retouchings“ oder „Rosalia Chladek Reenacted“. Es ist ihr Verdienst, dass manche Choreografien der Wiener Tanzmoderne dem Vergessen entrissen, rekonstruiert und weitergegeben wurden.

Man merkt, Amorts Zugang ist vielschichtig. Denn es geht ihr nicht nur um das reine Einstudieren von Choreografien beziehungsweise die Weitergabe derselben an junge Tänzer*innen-Generationen sondern auch darum, dass mit dem Material weitergearbeitet wird. Mit dem tänzerischen Erbe Grete Wiesenthals beschäftigt sie sich schon länger. Bereits 2007/08 kam es im Rahmen eines von ihr geleiteten Forschungsprojektes an der Konservatorium Wien Privatuniversität zu einer Weitergabe der Choreografien „Wein, Weib & Gesang“, „Weintretetanz“, „Rosen aus dem Süden“ und „Der Tod und das Mädchen“ durch Erika Kniza-Tron und Vilma Kostka-Langer, ehemalige Mitglieder der Wiesenthal-Gruppe.

Grete Wiesenthals Tanzweise war zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas Neues. Die ehemalige Hofoperntänzerin – zu ihrem Austritt 1907 war sie im Rang einer Koryphäe (heute: Erste Solotänzerin) – befreite sich vom Korsett, tanzte mit offenen Haaren und war Schöpferin und Tänzerin in Personalunion. Anfangs trat sie noch mit ihren beiden Schwestern auf, doch bald war sie solistisch unterwegs. Sie unterrichtete jahrzehntelang ihre spezielle „Balance- und Schwebetechnik“ (ein tänzerisches Schwingen und Drehen, teils in Schräglage) in Wien und prägte somit ganze Generationen von Tänzerinnen. Wichtig war ihr der bewegungsmäßig natürlich organische gestaltete Zusammenhang von Musik und Tanz. Sie prägte den Begriff vom „sphärischen Blick“, das heißt, bei den Drehungen wurde – im Gegensatz zum Klassischen Ballett – kein Punkt fixiert. Wiesenthal verströmte mit ihren Schwüngen und Endorphine auswerfenden Drehungen Glückseligkeit auf der Bühne. Diese Glückseligkeit zu finden war ein Ausgangspunkt für das Projekt – gerade in der Zeit am Ende einer Pandemie und geprägt von Kriegen, einer davon nicht weit von uns entfernt. So war ein Satz des in Odessa geborenen, in den USA lebenden Dichters Ilya Kaminski prägend: „Wir lebten glücklich während des Krieges“, der ja all den Wahnsinn hinterfragt.

So machten sich die vier Tänzerinnen Lea Karnutsch, Rebekka Pichler, Eva-Maria Schaller und Katharina Senk gemeinsam mit Andrea Amort auf die Suche nach der Glückseligkeit, die wir so nicht mehr kennen aber vielleicht doch wieder finden können. Unterstützung kam dabei von zahlreichen Personen, denn es wurde nicht nur eine Choreografie sondern auch die Wiesenthal-Technik erlernt: Susanne Kirnbauer, die 1977 als Erste Solotänzerin an der Wiener Staatsoper das Solo „Wein, Weib und Gesang“ erhielt, studierte dieses ein. In einer Videoinstallation mit einer Aufnahme von ihr ist sie am Abend auch zugegen. Anita Kidritsch unterrichtete Wiesenthal-Technik; Jolantha Seyfried gab einen Einblick in überliefertes Tanz-Repertoire von Grete Wiesenthal. Bei Else Schmidt beschäftigten sich die Tänzerinnen mit Volkstanz um 1900 und lernten unter anderem einen Boarischen, den Vorgänger des Walzers. Jacqueline Waltz führte in Isadora Duncan – Natural Movement ein, denn feministische Inspiration für Wiesenthal kam, auch wenn sie einander nie sahen, auch von Duncan.

Entstanden ist ein Abend, der sehr vielschichtig ist, aber doch ein großes Ganzes ergibt, wie ein Probenbesuch zeigte. Am Beginn steht die Vergangenheit mit dem einstudierten Solo „Wein, Weib und Gesang“. Danach kommen wir ins Heute, denn die vier Tänzerinnen haben ausgehend von dem Bewegungsmaterial durch unterschiedliche Herangehensweisen Soli kreiert. Rebekka Pichler wählte Musik, die auch Wiesenthal verwendet hat. Bei Katharina Senk steht der Rock im Mittelpunkt. Wiesenthal setze diesen bei vielen Choreografien bewusst ein, indem sie ihn in den Händen hielt und damit das Schwingen und Drehen verstärkte. Lea Karnutsch stellte sich die Frage, wie ein zeitgenössischer Körper mit diesem Bewegungsmaterial, das über 100 Jahre alt ist, umgeht und versucht die Anatomie vergangener Zeit zu erspüren. Eva-Maria Schaller hat ebenso von Wiesenthal verwendete Musik als Ausgangspunkt ihrer Gestaltung genommen. Konzept und Dramaturgie des Abends verantwortet Amort unterstützt von Inge Gappmeier. Sie haben keine bloße Nummernabfolge kreiert, sondern durch Musik, Video und Licht Übergänge gestaltet, die den Abend stimmig fließen lassen.

 

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