„Höhenrausch – ein Alpenballett“ von Georg Reischl

Die Kraft der Tradition?

Georg Reischls „Höhenrausch – ein Alpenballett“ im Münchner Gärtnerplatztheater

Georg Reischl setzt in seiner von der Struktur her klar nachvollziehbaren und streckenweise clever konzipierten Choreografie zu früh mit der Dekonstruktion von Konkretem an.

München, 06/06/2023

Grau in grau geht es im Schlussbild von Georg Reischls Neukreation „Höhenrausch – ein Alpenballett“ zu. Gerade noch sprengt eine wilde Gruppe „Hipster-Krampusse“ in schönen, sich wiederholenden Formationen durch den Raum – laut Aussage des Choreografen eine Variante jener rüden, Schrecken verbreitenden Raunacht-Gesellen, die Dorfkindern wie ihm einst mächtig Angst und Respekt eingeflößt haben. Heutzutagesollen Auftritte und Umzüge von Perchten ja allgemein viel kontrollierter ablaufen. Da kann man seinen Frieden mit dem früher „Warst Du nicht brav“-bösen Krampus schließen und mit ihm Party feiern.

Allerdings muss nicht automatisch viel dabei herauskommen, wenn wo viel drinsteckt. Das leise Bimmeln von Altarschellen leitet den Übergang ein. Stiller und stiller wird mit ihnen am Boden herumhantiert. Fackelträger betreten die Bühne. Ihr warmer Feuerschein schirmt den Blick auf die sich dahinter weiter verschiebenden mobilen Dekorelemente ab. Doch was bezweckt dieses festliche Zeremoniell vor einem erstaunlich melancholischen Finale eigentlich?

Gern hätte man sich von Georg Reischls „Höhenrausch – ein Alpenballett“ und seinen immer wieder ungewöhnlichen Schrittvariationen und Reihenketten für die Tänzerinnen und Tänzer des Gärtnerplatz-Balletts mitreißen lassen. Was da nicht alles durchschimmert an volkstümlich traditionellem Vokabular: Hände, die sich zum Beten falten; Arme, die sich souvenirtypisch adrett wie bei gedrechselten Holzfigurinen seitlich oder über den Köpfen positionieren; Röcke, die sich bauschen; schnelle Drehungen mit Fußschlenkern; weit aufgerissene Münder, die an Räuchermännchen erinnern mögen. Zudem wird die Ästhetik durch ein reduziertes, den Raum stetig veränderndes Bühnenbild (Michael Lindner) bestimmt, das unabdingbarer Teil einer ganz choreografisch geprägten Inszenierung zu sein scheint.

Vor kahlem Ambiente entspinnt sich ein Spiel umher und umeinander laufender Akteure. Immer wieder finden sich erst eine, dann mehrere Fünfergruppen zusammen. Man gibt sich die Hände und bewegt sich im Kollektiv. Hie und da fallen Einzelne solistisch auf, darunter beispielsweise der sich plötzlich ziemlich virtuos-klassisch ausdrückende Douglas Evangelista – oder Yunju Lee. Letztere scheint einem Druck, der auf ihr und der sie umgebenden Gesellschaft lastet, nicht mehr gewachsen. Es drückt sie zu Boden. Und dennoch reiht sie sich – kurz bevor der Schlussvorhang fällt – noch schnell unter die hinter ihr Stehenden ein.

Doch all das reicht nicht zum Erklimmen erkennbarer Gipfel. Der Abend scheitert letztlich wohl in allerbester Absicht. Anton Bruckner, dessen 4. Sinfonie „Die Romantische“ den – für Orchester wie Publikum – allzu bedeutsam-schweren Soundtrack beisteuert, hat die Natur seiner oberösterreichischen Heimat nicht nur geliebt, sondern hier quasi programmatisch einkomponiert. Zum Zarten des Erwachens unter den ersten Sonnenstrahlen am Morgen verblasst ganz zu Beginn von „Höhenrausch“ langsam ein Postkartenmotiv vom Wendelstein und gibt immer mehr den Blick frei auf ein in blumige Dirndl gewandetes, sich recht schematisch bewegendes Ensemble.

Später in Klangpassagen, die mächtig Energie und Bläserpower haben, breitet sich eine den gesamten Abend dominierende wie problematisierende Gewichtigkeit aus. Reischl will oder kann da offenbar nicht mitziehen – zumal der emotionale Grundcharakter und die sich wiederholt in Grimassen äußernde Expressivität seiner Interpreten oft in emotionalem Widerspruch zu dem steht, was die Musik lautmalerisch jauchzend, schwelgerisch und überwältigend erzählt.

Am Ende sind alle Farben aus dem Setting verschwunden, ebenso alles Gegenständliche. Die Tänzer*innen, deren Gewänder jeden Akzent einer Buntheit eingebüßt haben, scheinen mit ihren schlichten, nun dunklen, transparent feinmaschigen Kostümen in einem urbanen Moloch der Leere angekommen. Das Bild einer Gebirgskette, das sich zweigeteilt und umgedreht hat, bietet dem Publikum den Anblickbekletterbarer Gestänge-Konstruktionen mit den beiden weißen Bildrückseiten dahinter. Choreografisch wohnt dem Neuanfang aber kein Zauber inne – selbst wenn es atmosphärisch magisch anmuten mag, wenn langsam von hinten Nebel an den Füßen der Tanzenden hochsteigt.

Bilder, in denen man die traditionellen Elemente einer dörflichen Kultur als Inspiration für den Choreografen durchaus als solche erkennen mag, werden tänzerisch zwar aufgefächert, bleiben aber meist zu lange stehen. Unfreiwillig kommt dann Langeweile auf. Andererseits ist genügend Zeit, um die schön verschränkten Übergänge wahrzunehmen, sich den szenischen Input bewusst zu machen und zugleich über inhaltliche Aspekte mit ihrem auf Verfremdung getrimmten Look nachzudenken.

Trotz für sich teils schöner Bewegungsbögen und einzelner humorvoller oder rührender Momente passiert thematisch allerdings meistens einfach zu wenig – kontrastiert von Bruckners immenser Klangfülle. Da mögen sich Amelie Lambrichts, Jana Baldovino und ihr Männerkollegen-Ringerpaar Joel Distefano und Hikaru Osakabe beim alpenländischen Spielsport „Ranggln“ noch so eindrucksvoll verzerrt Fragen nach menschlicher Nähe und sozialer Bindung stellen. Ob es nun nach rechts oder nach links gehen soll, kommt in diesem zweiten Intermezzo zwischen 2. und 3. Sinfoniesatz als durchaus ermüdendes mimisch-verbales Hick-Hack-Gefecht rüber.

Das ehrgeizige, an sich ja interessante Vorhaben, die Kraft von Traditionen und ihren Einfluss auf uns Menschen zu untersuchen und das Stück zum Sinnbild für eine erfolgsgetriebene, von Individualismus geprägte Leistungsgesellschaft werden zu lassen, geht nicht auf. Zu rätselhaft und irritierend in seinem selbstverständlichen Aplomb beginnt und endet Reischls „Höhenrausch“. Die gesichtslosen Krampusse in ihren fetzigen, lackschwarzen Zottelumhängen und mit ihren neonleuchtenden Haarsträhnen (Kostüme: Min Li) haben als Nummer bloßen Showcharakter. Man vermisst gerade jene Ebene, die die Anmutung einzigartiger regionaler Bräuche in einen stimmigen Zusammenhang zur dargestellten Andersartigkeit wie generell Heutigem bringen könnte.

Georg Reischl setzt in seiner von der Struktur her klar nachvollziehbaren und sogar streckenweise clever konzipierten Choreografie viel zu früh mit der Dekonstruktion von Konkretem an, das er so zuvor noch gar nicht etabliert hat. Damit überspringt er quasi die Notwendigkeit, erst einmal das Ursprüngliche dessen zu zeigen, aus dem hier ausgebrochen werden soll.

Folglich nimmt das Publikum, als hätte man vergessen, ihn am eigentlichen Ort des Geschehens abzuholen, eher die Position eines distanzierten Beobachters ein. Reischls „Höhenrausch“ ist nicht wirklich selbsterklärend und vermag leider nicht, das Publikum in einen Rauschzustand zu versetzen.

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