«Tous les hommes presque toujours s’imaginent» von Gil Roman. Béjart Ballet Lausanne

Béjart Ballet Lausanne mit Altem und Neuem

„Tous les hommes presque toujours s’imaginent“ von Gil Roman, sowie „Boléro“ und „L’Oiseau de Feu“

Nach zehn Jahren schaut das Béjart Ballet Lausanne wieder in Zürich vorbei. Neben neuen Stars wie Jasmine Cammarota und Vito Pansini brillieren auch die beiden Oldies Julien Favreau und Oscar Chacón.

Zürich, 11/11/2023

Das Béjart Ballet Lausanne hat schwierige Zeiten hinter sich. Da war einerseits Corona. Da waren anderseits aber auch Anschuldigungen gegen den Ballettbetrieb unter Gil Roman: Von sexueller Belästigung, Mobbing, Vetternwirtschaft u.a. war die Rede. Die vom Stiftungsrat beauftragte Recherche lieferte keine klaren Beweise. Wohl aber prangerte sie „manchmal impulsive, cholerische, ungerechte Verhaltensweisen“ des Chefs an.

Ähnlich schwere Vorwürfe, darunter Machtmissbrauch und pädagogisches Versagen, betrafen auch die Leitung der Rudra-Schule (Ecole-atelier Rudra Béjart Lausanne). Ihr Chef Michel Gascard wurde entlassen, die Schule 2021 geschlossen; möglicherweise wird sie 2024 wieder eröffnet. Beim Béjart Ballet Lausanne (BBL) begnügte man sich damit, Gil Roman vom allmächtigen Chef zum künstlerischen Leiter zurück zu stufen. Als neuer Generaldirektor zeichnet nun Giancarlo Sergi, ehemaliger Spitzensportler und Sportmanager, verantwortlich.

Die Truppe in Topform

Nach zehnjähriger Pause gastiert das BBL vom 9. bis 12. November wieder einmal in Zürich . Es zeigt im Theater 11 ein ziemlich krisensicheres Progamm: Die beiden Béjart-Bestseller „Boléro“(1961) zu Maurice Ravels Musik-Knüller und „L’Oiseau de Feu“(1970) zu Strawinskys berühmter Ballettkomposition. Dazu Gil Romans einstündiges Werk „Tous les hommes presque toujours s’imaginent“(2019) zu Tonaufnahmen des amerikanischen Avantgardisten John Zorn aus den Jahren 1990-2017.

Und siehe da: Die Tänzerinnen und Tänzer des BBL erweisen sich – entgegen allerlei Unkenrufen – in Topform. Das dreiteilige Programm meistern sie brillant, auch in den Rollen, die eine lange Präsenz auf der Bühne verlangen: Etwa Julien Favreau in „Boléro“oder Jasmine Cammarota in „Tous les hommes…». Was die Truppe unter Maurice Béjart (1928-2007) berühmt machte, die physische Attraktivität und sinnliche Ausstrahlung der Mitwirkenden, zeichnet sie auch heute aus. Ebenso die Bereitschaft, im Tanz starke Gefühle auszudrücken und auch mal ein bisschen Kitsch zu wagen.

Boléro“mit Zürcher Verstärkung

Was fiel nun in den drei in Zürich getanzten Balletten besonders auf? Dass in „Boléro“ Julien Favreau tanzt, der diese Rolle seit 2007 innehat. Und dass dieser attraktive Tänzer inzwischen nicht mehr jung sein kann, war er doch schon im letzten Jahrhundert beim BBL engagiert. Der 17 Minuten lange Auftritt auf wippenden Füssen und mit allerhand Sprüngen gelang ihm wunderbar.

In Inseraten und Flugblättern waren in Zürich junge Männer gesucht worden, die als Statisten in „Boléro“ mitwirken sollten. Sie ergänzen in den hinteren Reihen die Béjart-Tänzer, die auf Stühlen rund um den Tisch sitzen, zu Ravels sich steigernder Musik von den Stühlen aufschnellen und immer mehr in Raserei verfallen. Das Publikum fiebert mit und applaudiert frenetisch. Typisches Béjart-Merkmal: Alle Männer haben nackte Oberkörper.

Gil Roman ist softer als Béjart

Der Beginn in Gil Romans „Tous les hommes presque toujours s’imaginent“ erinnert stark an Bejart. Im Schneidersitz meditieren Tänzerinnen und Tänzer im Halbkreis, mit dem Rücken zum Publikum. Auch hier haben die Männer nackte Oberkörper. Oder doch nicht? Bei genauem Hinsehen merkt man, dass sie hautfarbene dünne Leibchen tragen.

In dem gut einstündigen Stück erinnern auch andere Einzelheiten an Béjart. Aber im Ganzen ist die Atmosphäre bei Gil Roman, Startänzer unter Béjart und ab 2008 dessen Nachfolger als Chef, wesentlich softer. Inhaltlich fühlt man sich an Rituale einer etwas weltfremden Menschengruppe erinnert, die Kontakt zu verschiedenen Volksstämmen, aber auch zu Kalvarienbergen und einer Schar Engel hat. Dabei entdeckt ma in einer Nebenrolle Elisabet Ros, auch sie eine beliebte Tänzerin aus Béjarts Zeiten.

Langsame Partien überwiegen in diesem Ballett, oft in bewusstem Gegensatz zur variantenreichen Musik von John Zorn mit ihren Jazz-Einschlägen. Das Hauptpaar Vito Pansini und Jasmine Cammarota – ein Ausbund an Flexibilität und Grazie - tanzt auf leicht bekleideten Füssen, in einem zeitgenössischen Stil, der nur noch wenig an klassischen Tanz erinnert.

L’Oiseau de Feu“ unter Revolutionären

Klassischer Tanz – der ist bei „L’Oiseau de Feu“aus Béjarts Frühzeit noch deutlicher Ausgangspunkt. Spitzenschuhe sind allerdings passé. Die inhaltliche Umdeutung gegenüber dem Original-Libretto von Michael Fokine von 1910, das sich auf russische Märchen bezieht, ist gewaltig: Béjarts Feuervogel (der virtuose Hideo Kishimoto) trifft auf eine Partisanengruppe, er fällt einem Angriff fremder Feinde zum Opfer – doch er aufersteht wie Phönix aus der Asche und hat viele Nachfolger. Oscar Eduardo Chacón, der als Jüngling ebenfalls schon bei Béjart tanzte, verkörpert strahlend diesen Phönix.

Ob Béjarts „L’Oiseu de Feu», der an die einstigen Revolutionäre rund um Che Guevara erinnert, der Ballettmusik von Igor Strawinsky angemessen ist, darüber lässt sich bis heute streiten. Der Meister ging immer recht unbefangen mit Musikvorlagen um. Die Musik im gesamten Programm in Zürich erklang natürlich vom Tonträger.

Gastspiele im Mai 2024 in Deutschland

Nach den Auftritten in Zürich reist das Béjart Ballet Lausanne mit wechselnden Programmen weiter durch Europa. Schwerpunkte liegen in Paris, Brüssel und Bologna. Im Mai 2024 gastiert das BBL in Dortmund und Köln. Im Dezember 2023 kommt Gil Romans „Nivagation“ in Lausanne zur Uraufführung.

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