„Aurora‘s Nap“ von Johan Inger
„Aurora‘s Nap“ von Johan Inger

Vom Glück – und wie leicht man es verlieren kann

Dreimal Johan Inger beim neuen Stuttgarter Ballettabend „Pure Bliss“

In Stuttgart wurde für den ehemaligen Leiter des Cullberg Ballets sozusagen ein roter Teppich ausgerollt: Eine Auftragsarbeit für die Kompanie als Teil des komplett auf ihn ausgerichteten Tanzabends „Pure Bliss“, bei dem auch noch das Orchester zur Verfügung steht.

Stuttgart, 01/03/2022

Der Schwede Johan Inger verfügt über ein rares Können: quasi mit leichter Hand klassisches Ballett ins aktuelle Zeitgefühl zu integrieren – egal, ob es sich der Tanz um eine Handlung rankt oder um ein abstraktes Thema. Kein Wunder, dass sich seine Stücke bei internationalen Ballettkompanien wie beim Publikum großer Beliebtheit erfreuen. In Stuttgart wurde für den ehemaligen Leiter des Cullberg Ballets sozusagen ein roter Teppich ausgerollt: Eine Auftragsarbeit für die Kompanie als Teil des komplett auf ihn ausgerichteten Tanzabends „Pure Bliss“, bei dem auch noch das Orchester zur Verfügung steht.

(Der Dirigent des Abends, der stellvertretende Stuttgarter Musikdirektor Wolfgang Heinz, bleibt übrigens unerwähnt im Programmheft – wohl wegen einer eher peinlichen hausinternen Personalie. Mitte Dezember war der international gefeierte Stardirigent Mikhail Agrest nach nur einem Jahr in der Position des Stuttgarter Musikdirektors auf Betreiben des Stuttgarter Ex-Intendanten Reid Anderson fristlos entlassen worden. Der Kündigungsgrund: Differenzen über musikalische Tempi bei einer Probe.)

Was macht ein ausgefuchster Profi wie Inger mit dem Angebot, ein Stück für die gesamte Kompanie zu kreieren? Er erlaubt sich einen großen Spaß. Die Neukreation „Aurora‘s Nap“ dampft nicht nur im Titel den sprichwörtlichen Dornröschenschlaf auf ein Nachmittagsschläfchen zusammen, sondern das ganze legendäre Handlungsballett – einschließlich Tschaikowskys Musik – auf 50 Minuten. Trotzdem kriegt er alles unter: Drei Akte, jede Menge Auftritte für die Akteure in der sattsam bekannten Balletthandlung und solistische Glanznummern für die Stuttgarter Solisten-Riege, allen voran das Prinzenpaar Elisa Badens als Aurora und Kammertänzer Friedemann Vogel als Prinz Desiré. Während die bekannten Ohrwürmer mit Schmackes aus dem Orchestergraben erklingen, jagt auf der Bühne ein Gag den anderen.

Hier liegt die Stärke, aber auch die Schwäche dieses Paradestückchens. Wenn die Feen mit einschlägigen Elfenohren ausgestattet sind oder der Gestiefelte Kater, Rotkäppchen und ein Blauer Vogel unverhoffte Kurzauftritte haben, reibt man sich zwar ebenso belustigt wie verwundert die Augen, kommt aber dann doch um die Frage nicht herum: Was soll’s? Die Grenze zum Klamauk wird da nicht nur ein paarmal gestreift, sondern überschritten. Der Prinz hat seinen ersten Auftritt zeitgemäß auf einem Elektroroller, ansonsten gebärdet er sich wie die Karikatur eines Bachelors aus der gleichnamigen Fernsehsendung. Natürlich muss das alles auf einen Höhepunkt hinsteuern, in dem die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt sind.

Dabei erweist sich die Summe ganz vieler Späße auch nur als ein Spaß – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der künstlerische Mehrwert dieses Tanzabends liegt in den beiden anderen Stücken. „Out of Breath“ hat das Stuttgarter Ballett schon seit 2019 auf dem Programm – ein intensives Kammerstück für sechs Tänzer*innen. Es thematisiert (zur live gespielten, quasi „atemlosen“ Musik von Jacob Ter Veldhuis und Felix Lajkó) den urplötzlich sichtbar werdenden schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Das Stück hat Inger vor 20 Jahren für Nederlands Dans Theater II choreografiert, mit neoklassischer Prägung und athletischen Ausbrüchen.

Neu in Stuttgart ist dagegen das Stück „Bliss“, das dem gesamten Ballettabend den Titel geliehen hat. Das pure Glück – hier wird es tatsächlich eingelöst. Für das 2016 beim Aterballetto uraufgeführte Stück hat sich Inger ein kanonisches Musikstück ausgesucht: Das „Köln Concert“, mit dem Keith Jarrett 1975 in der Kölner Oper seine auf Improvisation am Klavier gegründete Weltkarriere begründete. So, wie diese Musik das positive Lebensgefühl einer Epoche bündeln konnte, trumpft die Choreografie mit Lässigkeit, Beiläufigkeit und souveränem Einbinden von Ballettvokabular in Alltagsbewegungen auf. In den aktuellen Zeitläuften – vor Beginn der Vorstellung erstrahlte die Bühne in den Farben der ukrainischen Flagge – wächst dem unbeschwerten Glück in einer menschlichen Gemeinschaft eine neue fundamentale Qualität zu. „Bliss“ entfaltet mit sechzehn Tänzer*innen auf der großen, leeren Bühne einen hypnotischen, bejubelten Sog.

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