"Firebird & Rite of Spring" (Yi-Wei Lo)

"Firebird & Rite of Spring". Tanz: Yi-Wei Lo

Mobbing auf dem Pausenhof

„Firebird & Rite of Spring“ – der neue Heidelberger Tanzabend vereint zwei Klassiker

Ein kurzes Vorspiel mit thematischem Leitmotiv geht über in ein anfänglich unschuldiges Spiel. Bis jemand gegen die Spielregeln verstößt.

Heidelberg, 07/03/2022

Ein guter Theaterspielplan enthält immer eine wohldosierte Mischung aus Bekanntem und Überraschendem. Im Fall des neuen Heidelberger Tanzabends „Firebird & Rite of Spring“ ist das scheinbar Bekannte die haushohe Überraschung. Noch nie zuvor hat der Leiter der Heidelberger Tanzsparte Iván Pérez Berührungspunkte mit Klassikern der Tanzgeschichte sichtbar werden lassen. Im Gegenteil: In seinen bisherigen Programmen, vor allem in der Trilogie über die „Millenials“, war er zeitgenössischer Befindlichkeit auf der Spur – und punktete beim Publikum mit Modernität, sensibler Bewegungssprache und einem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Gemeinschaft, die den Einzelnen Geborgenheit und Spielraum bietet. Die Neu-Interpretation von Ballett-Klassikern – noch dazu mit dem Thema Menschenopfer – hätte man von ihm nicht unbedingt erwartet.

„Rite of Spring“, bei Pérez englisch betitelt, ist zwar ein dramaturgisches Schwergewicht, aber ein kurzes. Als Ergänzung hat sich der Choreograf den „Feuervogel“ ausgesucht, allerdings mit dem Zweiakter kurzen Prozess gemacht. Von einem ganzen komplizierten Ballettmärchen ist in seiner „Firebird“-Version nur die Titelfigur geblieben plus Musik von Igor Strawinski. Allerdings erklingt aus dem Orchestergraben (am Pult Elias Grandy) nicht die „Feuervogel“-Ballettmusik, sondern eine Suite, die musikalisch dem „Sacre“ nähersteht. Tatsächlich sorgte diese Komposition bei der Uraufführung 1913 in Paris für einen berüchtigten Theaterskandal – hatte Igor Strawinski für das raue Thema doch auch eine neue raue Musik erfunden. Die Aufkündigung zahlreicher musikalischer Konventionen gilt heute als eine Geburtsstunde der Moderne.

„Firebird“ kommt in diesem Doppelabend nur als kurzes Vorspiel von „Rite of Spring“ daher und liefert das thematische Leitmotiv des Abends. Tänzerin Yi-Wie Lo in exotischer schwarzer Federweste marschiert und posiert auf der von farbenprächtigen Kostümen belagerten Bühne (Bühne: Peer Rudolph, Kostüme: Sofie Durnez). Als eine weitere Tänzerin auftaucht, spielen die Beiden vergnügte Kinderspiele, dann kommt ein Dritter dazu. Und plötzlich schlägt die Atmosphäre um, es beginnt ein handgreifliches Mobbing auf dem Pausenhof. Ivan Pérez gelingt es an diesem Abend immer wieder, das schnelle Kippen der Stimmung zwischen den Protagonisten einzufangen, die Nachahmung, mit der Kinder oft in Spiele einsteigen, der schnelle Wechsel der selbst erfundenen Spielregeln, das Ausgrenzen des- oder derjenigen, die sich nicht in diese Regeln fügen wollen oder können. Anderssein kann sehr plötzlich passieren.

Ohne Pause, quasi bruchlos geht der Tanzabend in „Rite of Spring“ über, gestemmt von sechs Tänzerinnen und zwei Tänzern. Jetzt kommen die vielfältigen Kostüme ins Spiel, die diese Aufführung optisch prägen: Sie wirken exotisch, irgendwo verortet zwischen folkloristisch und modern, aber ohne konkreten Bezug auf Ort oder Zeit. Beim spielerischen Ausprobieren der Kleidungsstücke beweist Pérez einige Fantasie – zwei Frauen hüllen sich mal kurz in Kopftuch oder Schleier, es gibt Hosen und Jacken für Zwei. Knallbunte, variable Tücher lassen sich in die Luft werfen und erzeugen einen starken optischen Drive. Die Bewegungssprache bleibt indessen schlicht, viel Auf und Nieder und Rollen am Boden oder Ringelreihen in kleinen Gruppen. Manchmal lässt sich die Choreografie von der Musik treiben, manchmal ist das Tempo auf der Bühne gegenläufig; das macht es nicht leicht, sich auf den archaischen Sog der Musik einzulassen.

Allmählich geht dem Spiel die Unschuld verloren. Tänzer Kuan-Ying Su verstößt gegen die immanenten Spielregeln, weil er sichtbare Schwäche zeigt. So macht er sich zum Opfer – und wird unter Stoffbergen förmlich begraben. Doch dann besinnen sich die Übrigen etwas unvermittelt auf ihr besseres Ich und reihen sich in den letzten Auftritt des Opfers ein; zum einzigen Mal an diesem Abend wird in traditionellem Sinn zusammen getanzt. Zum finalen Schlussakkord, der den Tod markiert, springen alle acht Akteure gemeinsam aufs Publikum zu – ins ungewisse Dunkle.

Das Thema Gewalt in Gesellschaften hat eine ungeahnte neue, unendlich herausfordernde tagespolitische Aktualität gewonnen. Einen differenzierten Beitrag zu diesem schwierigen Diskurs kann dieser freundlich beklatschte Abend kaum leisten. Bezug zum Tagesgeschehen gab es aber doch, als Intendant Holger Schultze anschließend auf der Bühne dafür plädierte, russische Künstler nicht in mentale Sippenhaft für den Ukraine-Krieg zu nehmen.

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