Virtuos durch die (Zeitschienen-) Mangel gedreht
Anna Konjetzkys „tomorrow...we...were“ in der Muffathalle
Premiere von Anna Konjetzkys neuester Produktion „hope/less“ in der Münchner Muffathalle
Ein buchstäblich ‚großer Wurf‘ ist der fest in der bayerischen Landeshauptstadt etablierten Choreografin Anna Konjetzky mit „hope/less“ wieder einmal gelungen; eine Produktion, die nach Vorpremieren in Braunschweig aktuell auch in München eine bejubelte Premiere feierte – zu Recht! In ihrem poetisch-philosophisch anmutendes Tanz-Portrait widmet sich Konjetzky nicht weniger als dem unendlich weiten Feld der Hoffnung bzw. Hoffnungslosigkeit. Und dank zahlreich geführter sowie akustisch eingespielter Interviews erhält sie unzählige Antworten auf die Frage nach der individuellen Bedeutsamkeit von Hoffnung, die nur immer weitere Fragen eröffnen: Ist Hoffnung als ewiger Motor des Vorwärtskommens und der Motivation zu verstehen? Oder kann Hoffnung auch blockieren und zu resignierter Passivität verführen? Wann schlägt Hoffnung in Hoffnungslosigkeit um? Keinen brisanteren Zeitpunkt hätte sich die Choreografin aussuchen können, um sich in dieser unserer aktuellen Zeit der oftmals erdrückenden Wut, Traurigkeit und Ohnmacht – und doch auch wieder aufkeimenden Hoffnung auf bessere und friedlichere Zeiten – diesem gewaltigen Themenblock zu widmen, der sowohl individuell als auch gesellschaftlich berührt, indem er ausnahmslos jeden betrifft!
Den visuellen Rahmen von Konjetzkys Emotions-Kaleidoskop bildet ein auf vier Pfosten ruhendes fahr- und drehbares Metallgerüst, in das ein grobmaschiges Netz aus Sicherheitsgurten gespannt wurde. Dieses bietet auf raffinierte Weise ein variables Spielfeld mit schier endloser Vielfalt an Bewegungsmöglichkeiten für das virtuos-dynamische Power-Quartett bestehend aus Daphna Horenczyk , Sahra Huby, Quindell Orton und Jascha Viehstädt als festes Team der Choreografin.
Zu zunächst zart anmutenden Klängen (Stavros Gasparatos) schält sich eine im Netz befindliche Gestalt aus der tiefschwarzen Dunkelheit des Bühnenraums heraus. Ein einzelner Körper, der mit zaghaften Slow-Motion-Bewegungen seinen horizontalen Umraum entdeckt und nach und nach von den anderen drei Tänzer*innen Gesellschaft erhält. Jede*r für sich erkundet zunächst behutsam die auf kleinem Minimalraum beschränkte Umgebung, tastet sich vor und vergrößert den Bewegungsradius – vier Individuen für sich, auf der Suche nach sich selbst, nach der eigenen Identität – integriert in ein Netz vermeintlicher Sicherheit oder doch ein Netz der Begrenzung? Erst allmählich entdecken die Performer*innen im sportiven Casual-Look – barfuß, Jeans, Streifen-Shirt – die vielfältigen Möglichkeiten, die das unter ihnen befindliche Netz auch in der Vertikale zur Bewegung bietet: Ein vorsichtiges auf den Netzgurten Balancieren wird ebenso erprobt, wie ein Legen auf die Striemen oder ein geschmeidiges durch das Netz Hindurchgleiten. Aus diesem vermeintlich ‚behaglichen‘ Zustand entwickeln sich alsbald bedrohliche Situationen, wenn zwei Tänzer*innen das ‚gemachte Nest’ verlassen und auf den Boden hindurchrutschen – die über ihren Köpfen gefährlich schwebenden Tänzer*innen drohen spinnengleich auf ihre Opfer zu stürzen – mit vollem Gewicht. Doch alle vier landen in vollendeter Kontrolle auf dem Bühnenboden, wagen den Sprung ins Freie – in die Freiheit.
Zaghaft und ungelenk balancieren die Tänzer*innen auf einzelnen Körperteilen, bis sie an Bodenhaftung gewinnen und ihr Terrain erobern. Spiralen werden gedreht, ein Tänzer (wunderbar virtuos: Jascha Viehstädt) vollführt imaginäre Boxübungen mit sich selbst: Hoffen ist auch kämpfen, oftmals mit sich selbst – sich selbst überwinden, nicht nur buchstäblich passiv ‚hängen lassen‘ und darauf vergeblich hoffen, dass doch wohl etwas geschieht, etwas geschehen muss. Mit immer raumgreifenderen Bewegungen und rasant-schnellen Wechseln im Raum erobern die Tänzer*innen diesen auch mit geschlossenen Augen souverän. Sie agieren als perfekt aufeinander eingespieltes Kollektiv, dynamisch virtuos sowie extrem präsent und überzeugen gerade in ihrer Diversität, als ideale Ergänzung zueinander. „I hope for…“ wird bald als zentrale Fragestellung und gleich eines kindlichen Wortspiels in den Raum geworfen und von den vier Akteur*innen neckisch-kokett, introvertiert oder – im Gegenteil – extrovertiert zum Tool einer improvisatorischen Spielwiese umfunktioniert, dies um die eigenen Wünsche zu äußern – und sind dabei ganz bei sich, im intimen Gedankenspiel.
Doch immer wieder ruft das Gerüst, als ‚sicherer Hafen‘ der Gewohnheit und des Altbekannten, die Tänzer*innen zurück und fängt sie wieder ein – einzeln, zu zweit, alle zusammen. Die Tänzer*innen antworten ihrerseits jedoch durch die neugewonnenen Erfahrungen mit nun waghalsigen leichtsinnigen Schwüngen – die in Überschlägen und gefährlichen Fällen zu münden drohen –, erobern mit ungeahnt geballter Energie ihr altes Terrain als neues für sich und beanspruchen es auf völlig andere Weise: Sie schwingen am Geländer entlang, klettern in Windeseile daran empor – mühelos, schwerelos –, balancieren freihändig auf den Netz-Striemen – das Leben als Balance-Akt per se. Furchtlos springen sie von großer Höhe und im Stand vom Trapez – gleichen Fallschirmspringern, ohne Fallschirm, absolute Kontrolle im bloßen Fall. Die Lust und Neugier aufs Leben überwiegen, Fehltritte als Folge werden in Kauf genommen: That‘s live! Virtuoses Klettern – virtuoses Scheitern! Was soll’s?!
Doch zuweilen ist es auch ein Nicht-Von-Der-Stelle-Kommen, trotz größter Bemühungen und rasend schnell ausgeführter Laufschritte in der Luft, geht jeder Schritt letztlich ins Leere – gleich einem Hamster im Laufrad, Vorwärtsbewegung über den Käfig hinaus sind unmöglich. Hier wird das Netz auch zum Gefängnis – Schlingen, die einen nicht in die Freiheit entlassen und unsichtbar festhalten.
Immer wieder finden sich die vier Individuen zu skulpturalen Gebilden zusammen – als lebendig atmender Organismus, als anmutig schwebendes und zugleich fragiles Perpetuum Mobile, das als unbewegter Beweger für pausenlosen Wandel einsteht: Die Tänzer*innen halten sich – beiläufig und ohne großes Aufsehen darum –, supporten sich, bewahren einander vor Fall und Stoß; aus Individuen entsteht eine Gemeinschaft. Losgelöst von Zeit und Raum scheinen sie in der Ewigkeit zu schweben – in einem Antiquarium ohne Wände, ohne Boden, ein luftleerer Raum. Doch dann fordern sie sich ebenso und setzen sich gegenseitig Grenzen auf: Etwa, wenn eine unterhalb des Gerüsts stehende Tänzerin im vermeintlich freien Lauf diesem zu entkommen gedenkt und jedes Mal im abrupt von ihren Partner*innen rasant gedrehten Podium gegen den metallenen Pfosten zu prallen droht – dies signalisiert, es gibt kein Entkommen. Ein Bild, das zu besagen scheint: Hier ist deine Grenze! Bis hier und nicht weiter! Brutale Eindrücke wie diese wechseln sich mit zart-anrührenden ab, wenn eine unter dem Trapez befindliche Tänzerin (Quindell Orton) nun ein Entkommen in der Vertikale versucht und zaghaft ihre Finger durch die grobmaschigen Löcher des Netzes hindurchstreckt – gleich einem Griff nach draußen, einem physischen Seufzen nach Freiheit… ein Bild, das unzählige Assoziationen zulässt.
Erst als das Gerüst mit geballter gemeinsamer Kraft an die Bühnenrückwand gerollt und ‚endgültig‘ buchstäblich Platz geschaffen wird, ist Raum für Vielfalt und freies Atmen vollends möglich. Doch auch dieser Zustand ist nicht final, alsbald wird das Gerüst wieder zurückgeholt und wie auf ein lautloses Kommando klettern die vier Tänzer*innen in Sekundenschnelle zurück auf ‚ihr‘ Gerüst, ziehen sich auf ‚ihre‘ Burg zurück – hängen dort jedoch wie im Netz verfangene Insekten, wie Schiffbrüchige am rettenden Balken auf sinkendem Boot. Hängen dort lange, so lange, bis sie beginnen zu schnaufen, zu fluchen und zu schreien – „I quit“, stellt Sarah Huby fest, sie kann nicht mehr – die Schwerkraft zieht zu unnachgiebig an ihr, und ihr kopfüber hängender Partner droht mit dem Schädel voraus auf den Bühnenboden hart aufzuprallen. Zunehmende Unsicherheit ist beim Publikum spürbar: Ist dies das Ende der Vorstellung, soll man die Tänzer*innen mit Applaus erlösen? Doch es ist nicht der Abschluss, in einem rasanten Finale bleibt eine Tänzerin allein im Netz zurück und versucht kletternd zu entfliehen, droht sich jedoch immer mehr zu verheddern, während ihre Tänzer-Kolleg*innen sie unaufhaltsam und in schwindelerregendem Tempo im Gerüst drehen – ein so starker Eindruck, dass er sich physisch aufs Publikum überträgt. Plötzlich bricht der bedrohliche Strudel ab – die Tänzerin kann sich in letzter Sekunde befreien und ihre (Selbst-)Kontrolle zurückgewinnen. Sie hat wieder Boden unter den Füßen – eine momentane Ordnung wurde wieder innerhalb des Kollektivs hergestellt. Meterlange Plastikstriemen werden am Netz befestigt. An beiden Seiten gehen die Tänzer*innen mit diesen von der Bühne ab in den Zuschauerraum und spannen ein Netz über die Köpfe des Publikums. Dieses wird dadurch selbst zum Teil des Bühnenkollektivs, Teil der eingeschworenen Gemeinschaft. In die sich erneut ausbreitende Dunkelheit hinein wird das Bühnengerüst gemächlich, doch unaufhaltsam gen Zuschauerpodest gerollt und das Stück endet – wie auch sonst – in Bewegung, als visionäres Bild mit Blick in die Zukunft? Ein visionäres Bild mit Blick nach vorn. Ein Ende im Wandel – wir alle im Wandel und das ohne Unterlass, ohne einen Moment des Stillstands. Kein Sein ohne Wandel!
„I do not feel alone in my hope. I share the same hopes and fears as many other people“, sagt eine Stimme während der Vorstellung von „hope/less“ einmal aus dem Off, und der Kern dieser Aussage wird besonders am Ende spürbar, in dieser Zeit, in diesem Moment… Wenn geteiltes Leid halbes Leid ist, ist dann nicht im Gegensatz hierzu geteilte Hoffnung doppelte Hoffnung? Hoffnung kann Motor sein, Blockade sein, kann individuell und gemeinschaftlich sein, kann bewegen und kann stoppen – Hoffnung als wahrgenommene Chance der Veränderung und als Motor der Verwandlung kann aber vor allem eines tun: Make things happen! Allein, aber besser noch im Kollektiv. Zusammen ist mehr.
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