Koexistenz sozialer Räume vor dem zukünftigen Pina Bausch Zentrum

Ein Blog über das „under construction“-Festival in Wuppertal

Swantje Kawecki denkt darüber nach, wie das under-construction-Festival durch sein Programm auf aktuelle und spannende Themen aufmerksam gemacht und Anregung für ein anderes gemeinsames Miteinander gegeben hat.

Wuppertal, 19/05/2022

Studierende des BA Tanz und MA Tanzwissenschaft der Hochschule für Musik und Tanz Köln bloggen über das „under construction-Festival, das vom 06.-08. Mai im zukünftigen Pina Bausch Zentrum stattfand. In einem 48-Stunden-Marathon versammelte es Performances, Musik, Animation, Rollerskating, Yoga, Clubbing, Konzerte, Aktionen wie Bäume pflanzen und Gespräche von und mit lokalen und internationalen Künstler*innen und Aktivist*innen.

 

Von Swantje Kawecki

Fokus, die Frage nach Fokus. Eine Frage, die in jedem Moment gestellt werden könnte und deshalb vermutlich auch so schwierig ist. Besonders heutzutage, wo überall und kontinuierlich Ablenkung um uns herum stattfindet. Unsere Geräuschkulissen, besonders im städtischen Raum, sind so geballt und laut. Gleichzeitig gehören sie sehr selbstverständlich zu unserem Alltag und fallen uns nur in Momenten auf, in denen es ausnahmsweise leise ist, oder ein neuartiges, besonders ungewohntes Geräusch auftaucht.

Mal leise, mal laut war es auch auf dem Vorplatz des zukünftigen Pina Bausch Zentrums, hier, in Wuppertal, neben einer der Hauptverkehrsstraßen, die dreispurig in jede Richtung befahren wird. Früh am Morgen, wenn das Festival nur von den Nachteulen besucht wird und alle Veranstaltungen im Gebäudekomplex stattfinden, ist der Platz davor wie ausgestorben. Die gepflasterte Fläche vor dem treppenartigen Gebäude, auf der vereinzelt in Reihen angeordnet Steinbänke stehen, und die Bauminseln, die die Grenze zum Bürgersteig markieren, liegen verlassen. Zu diesem Zeitpunkt deutet noch nichts auf die vielen verschiedenen „Happenings“ hin, die später durch ihr Nebeneinander für eine variierende Geräuschkulisse sorgen werden.

Vom Nebeneinander und Nachhaltigkeit

Koexistenz bedeutet: ein Nebeneinander, nicht verschmolzen. Ist Koexistenz auf engem Raum ein möglicher Beginn, um die unterschiedlichen sozialen Räume aufeinander aufmerksam zu machen? Ist das Prämisse, bevor Grenzen aufweichen und sich sogar auflösen? Zumindest ließ das Geschehen beim „under-construction“-Festival darauf hindeuten.

Ein Beispiel ist das Szenario zur HipHop-Musik, die während der öffentlichen Probe der Rollerskater*innen aus Musikboxen gespielt wurde. Dazu bewegten sich die Skater*innen in lässigen Schwüngen und choreografierten Abfolgen über den schwarzen Tanzboden, übten für ihre am Abend stattfindende Performance. Parallel dienten die HipHop-Beats den Besucher*innen des Festivals als Hintergrundmusik ihres Samstagnachmittags, den sie unter anderem bei veganen Imbissen und Fritz-Limonaden in der Sonne sitzend genossen. Denn das Festival stand unter dem Motto: „Alles im Sinne der Nachhaltigkeit“.

So wurden zwischendurch neben Essensständen, dem Eingang des ehemaligen Schauspielhauses und Biertischgarnituren junge Obstbäume auf Rollbrettern spazieren gefahren – Obstbäume als Patenkinder, die ihre zukünftigen Eltern suchen. Bis Herbst werden sie in Obhut gegeben, um dann an urbanen Orten für alle zugänglich gepflanzt zu werden. Wie vielversprechend das klingt: Obst für alle frei zugänglich, grünere Städte und Aufmerksamkeit für bewussteren Umgang mit unseren Ressourcen. Ein paar der Bäume sind dem zukünftigen Pina Bausch Zentrum zugesprochen worden und werden bald in dessen kleinen Garten gepflanzt. Vielleicht sind ja die ein oder anderen Patenkinder von Besucher*innen wieder dabei?!

Neue Blickwinkel

Der Name des Festivals „under construction“ ist auf vielen Ebenen Programm. Nicht nur das Gebäude ist im Umbau, auch neue Blickwinkel wollen eingenommen und Geschichten konstruiert werden – auch hier spiegeln sich der Gedanke der Nachhaltigkeit und der Wunsch nach Koexistenz wider. Etwas abseits gab es etwa eine lebendige Bibliothek, die „Living Library“, ohne Bücher und ohne Papier. Wie ist das möglich? Indem die Lebensgeschichten unserer Mitmenschen als im lebendigen Körper archiviertes Dokument gesehen werden. Die Freiwilligen der „Living Library“ eröffnen einen Raum für Fragen, die uns schwierig vorkommen können, die mit Vorurteilen zu tun haben, geprägt von einer Gesellschaft, die immer noch eine Norm vorschreibt und „Andere“ ausgrenzt. Die Idee dahinter: ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen und unsichtbare sowie sichtbare Mauern abzubauen. Die zunächst noch leeren Stühle an den sonnengelb leuchtenden Tischen füllten sich im Laufe des Nachmittags mehr und mehr. Reger Austausch fand statt und gab hoffentlich neue Blickwinkel mit auf den Weg.

Publikumsbarrieren

„Das ist nicht so meins, mit klassischer Musik“, „Nee, mitmachen nicht. Ich will nur zuschauen“ oder „Die Leute kommen hierher, um abzuschalten“ – das waren Gedanken, die im Gespräch mit dem städtischen Personal Wuppertals auftauchten. In wechselnden Schichten trugen sie auf dem Vorplatz des ehemaligen Schauspielhauses zum reibungslosen Ablauf des Festivals bei.

Im Gegensatz zu den Besucher*innen, Künstler*innen und Organisator*innen waren sie auf Anweisung ihrer Arbeitgeber*innen vor Ort. Den Aufenthaltsort ihres Wochenendes hatten sie also nicht aktiv gewählt. Im Gespräch mit ihnen stellte sich heraus, dass sie selbst nicht ins Gebäude gegangen sind oder gehen wollten. Mir kam es so vor, als ob sie sich nicht damit identifizieren konnten. Obwohl gerade die Diversität des Publikums und die Öffnung zur Stadtgesellschaft hin ein Anliegen des Festivals war, haben sich die Arbeitenden klar davon distanziert: Sei es in Form von Musikgeschmack, denn das, was von drinnen auf dem Vorplatz draußen zu hören war, entsprach nicht dem eigenen Geschmack; oder sei es die Tatsache, dass sie mit Tanz als Bühnenkunst konfrontiert wurden, wozu sie bisher noch keinen direkten Bezug hatten und altetablierte Vorstellungen davon vertaten.

Klar wurde auf jeden Fall, dass sie sich nicht als Teil des angesprochenen Publikums wahrnahmen - und das trotz des diversen und durchaus niederschwelligen Angebots, das manchmal einem Bürger*innenfest anmutete. Wie wäre es also möglich, die Barrieren zu zeitgenössischer Kunst, nachhaltigen Lebensansätzen und gemeinschaftlichen Aktionen noch kleiner werden zu lassen? Was braucht es, damit Menschen Neues ausprobieren? Weniger Konventionen? Eine Person, die sie aktiv einlädt? Kein Performancedruck? Die Antworten werden vermutlich mit der Anzahl an Menschen variieren. Und dennoch sind sie die Überlegungen nach möglichen Antworten wert.

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