"The Seven Sins: HOCHMUT // PRIDE — HERMANA" von Marcos Morau

 

Ein sündhaft toller Abend

„The Seven Sins“ - Sieben choreografische Uraufführungen bei Gauthier Dance am Theaterhaus in Stuttgart

In sieben tänzerischen Erkundungen nähern sich Choreograf*innen und Tänzer*innen den sieben Todsünden an. Ein Konzept, das voll aufgeht, ohne auch nur einmal den Zeigefinger zu heben.

Stuttgart, 10/05/2022

Am Ende überzeugt vor allem das Konzept. Sieben Mal geht es darum, mitunter auch in genreüberschreitenden, bisweilen grenzüberschreitenden Erkundungen des tänzerischen Ausdrucks, vor allem keine Klischees dieser „Sieben Todsünden“ zu präsentieren. Nein, hier lassen alle der 15 Tänzer*innen in der ersten Aufführung nach der Premiere die Unerbittlichkeit und die Härten dieser menschheitsgeschichtlichen Verführbarkeiten in aller Schutzlosigkeit an sich heran. Sie liefern sich aus, der Habgier und der Faulheit, dem Stolz und der Völlerei, der Wollust, dem Zorn und dem Neid.

Teil des grandiosen Konzepts dieses Sündenprojektes ist es auch, dass die sieben Choreograf*innen, die sich hier mit den jeweiligen Tänzer*innen einer dieser sieben tödlichen Sünden mitunter geradezu schutzlos ausliefern, letztlich auch zu denen gehören, deren choreografische Individualität die Kraft wesentlicher Facetten zeitgenössischer Tanzkunst ausmacht. Am Ende - auch das mag für die Klugheit des Konzeptes sprechen - kann man sich gar nicht vorstellen, dass es eine andere Zuordnung der Sünden und ihrer choreografischen Hingabe geben könnte.

Sidi Larbi Cherkaoui eröffnet den Tanz der Sünden mit einer Choreografie für neun Tänzer*innen im vorwiegend grau gehaltenen Einheitsraum mit jeweils wechselndem Lichtdesign mit einer sehr variablen Sicht auf jenen legendären Tanz um das goldene Kalb: „Habgier // GREED – Corrupt“. Und das hat sogar Witz, wenn die Tänzer*innen schon mal zu Fratzen des Reichtums werden können. Geld wird zur zweiten Haut, verbirgt nach und nach das eigene Gesicht. In der absurden Zeremonie eines Rituals steigert sich Jonathan Reimann in priesterlicher Ekstase bis hin zur Symbolik einer Kreuzigung als Zeichen der erlösenden Kraft jener Welt der schönen Scheine, die zu allem dann auch noch so gut Feuer fangen. Alle verbrennen in der Hölle des Geldes. Und das sogar mit aufblitzendem Humor.

Und die Faulheit? Von wegen, gibt es nicht, schon gar nicht im Tanz, selbst wenn es um diese angeblich so tödliche Sünde geht. In „FAULHEIT // SLOTH - human undoing“ lässt Aszure Barton die Tänzer Andrew Cummings und Mark Sampson daran verzweifeln, dass sie es nicht vermögen, aus einer Art Trance tödlicher Bequemlichkeit zu erwachen. Da nutzt es auch nichts, wenn sie sich immer wieder den eigenen Körper abklopfen. So wie ihre schludrigen Kostüme werden sie sie sich durchs Leben schlabbern, bzw. zumindest tanzen.

Und der Stolz? Absurder geht’s kaum, wenn Marcos Morau in „STOLZ // PRIDE - HERMANA“ in seiner Performance Nora Brown, Barbara Melo Freire, Garazi Perez Oloriz und Sidney Elizabeth Turtschi in ihren völlig aus der Zeit gefallenen blauen Kleidern zum Klingeling des Gebetsglöckchens langsam durch den Saal auf die Bühne pilgern lässt. Und dann werden, so ganz langsam, aber immer erschreckender, in der Unverträglichkeit pseudoreligiöser Unbelehrbarkeit, diese zunächst so fromm wirkenden, blauen Büßerinnen zu Monstern des Stolzes derer, die im Besitz der Wahrheit sind. Das ist eigentlich armselig, wenn es nicht so tragisch und gefährlich wäre. Marcos Morau - ganz nah am Puls der Zeit.

Das kennt man ja, Marco Goecke lässt seine Tänzer*innen, vor allem in den Szenen der Einsamkeit, geradezu explodieren in der Art, wie sie bis zur Erschöpfung immer noch eine hoch- oder seitlich gerissene Bewegung aus dem Verborgenen ihres Innern heraus schleudern können. Ob seine Sicht auf das Phänomen der Völlerei, also nicht genug zu bekommen, so eindeutig kritisch ist, lässt sich nicht sagen. Gaetano Signorelli, in Goeckes „VÖLLEREI // GLUTONY - Yesterday’s Scars“, nimmt gewissermaßen zur Musik von The Velvet Underground mit und auf, was geht. Das kann dann bis in die exzessive Selbstzerstörung führen, wofür natürlich Marco Goecke wohl derzeit die verstörendsten Bewegungen findet. Am Ende ein Schreck mit Scherz, wenn sich der Tänzer umdreht, und zeigt, da ist ja noch was in mir, an mir, und da geht auch noch was rein, und muss auch noch was raus: Unterm Röckchen stößt das Böckchen.

Hofesh Shechter lässt in „WOLLUST // LUST - LUXORY GUILT“ neun Tänzer*innen sich in Siegerposen konkurrierend messen bis zum Kurzschluss. Das macht Spaß, vor allem, wenn sie in einer Art Einheitskleidung der zusammen mit Gudrun Schretzmeier entworfenen Kostüme kaum zu unterschieden sind. Das lässt sich zunächst dem Begriff der angeblich so sündhaften Wollust kaum zuordnen, bekommt aber immer stärkere Konturen menschlicher Abgründe, geht es doch um die letztlich tödlichen Mechanismen der Unterdrückung genau jener Facetten des Lebens, die dazu gehören, ein solches in voller Lust zu feiern. Und wer am Ende diesen ganz absichtlich so leise gesetzten Seufzer einer möglichen lustvollen Befreiung nicht vernimmt, sollte sich diese grandiose Kreation noch einmal ansehen. Die Lust nämlich, sie höret nimmer auf! Und falls doch mal, es gibt ja Mittel, die helfen wieder auf.

Wer zornig ist, der schreit. Allein, gegeneinander oder miteinander. Und wenn die Kraft der Kehlen mal zu verlöschen droht, dann lässt sich ja aufhelfen, elektronisch, mit harten Beats, mit Krach, der die Ohren wackeln lässt. Das ist eine Idee - viel mehr leider auch nicht - von Sasha Waltz. „ZORN // WRATH - IRA“ heißt ihr Beitrag zum Sündenseptett, in zwei Varianten, entweder schreien zwei Frauen oder - wie in dieser Aufführung der Schreiperformance - zwei Männer, Mark Sampson und Shori Yamamoto. Sie haben dann sogar noch die Kraft, die Tonboxen durch den Raum zu schleudern. Ist Krach eigentlich Kunst?

Zur Musik von Anne Müller lässt zum Finale Sharon Eyal in den von ihr gestalteten Kostümen Bruna Andrade, Nora Brown und Izabela Szylinska tanzen. Und ja, die Betonung liegt auf „tanzen“. „NEID // ENVY - POINT“ so die Kreation von Sharon Eyal für jene drei Tänzerinnen ganz ähnlicher Gestalt und Erscheinung, die scheinbar immer wieder auf der Stelle tanzen, auf der halben Spitze, anstrengender als klassisch im Spitzenschuh, aber schmerzhafter in den Momenten dieser so bitteren wie unabwendbaren Neidvarianten. Die Choreografin ist bekannt für die Genialität ihrer Synchronvarianten, hier werden sie für die Tänzerinnen im Neidgestus zu Momenten des Tanzens am Rande der Hölle.

Und dann, im Nachgang, im Rückblick, das Konzept geht auf. Ganz ohne auch nur den kleinsten Zeigefinger zu erheben, oder für Momente den Tanz zu missbrauchen, diese Sünden sind in der Welt, zur Warnung werden sie wohl Todsünden genannt. Sie zu leugnen wäre garantiert tödlich, sie zu erkennen, sie auch notwendigerweise anzuerkennen, könnte bedeuten, sie zu zügeln, ihre Kraft zu bändigen, ihren angeblichen, überirdischen Satanismus zu entlarven. Und wir wären ja nicht bei dieser, vor nunmehr fast 15 Jahren begründeten Kompanie von und mit Eric Gauthier, ginge es nicht bei diesem Tanz mit der Sünde letztlich vor allem darum, die Tore für den Tanz des Lebens immer wieder weit zu öffnen. Was soll man sagen? Danke! Für diesen sündhaft tollen Abend!

 

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