Ein Text über Arme

Ein Blog über das "under construction"-Festival in Wuppertal

Pauline Michel bewundert die anmutigen Arme von Pina Bausch und denkt über ihr Erbe nach.

Wuppertal, 13/05/2022

Studierende des BA Tanz und MA Tanzwissenschaft der Hochschule für Musik und Tanz Köln bloggen über das „under construction-Festival“, das von 06-08. Mai im zukünftigen Pina Bausch Zentrum stattfand. In einem 48-Stunden-Marathon versammelte es Performances, Musik, Animation, Rollerskating, Yoga, Clubbing, Konzerte, Aktionen wie Bäume pflanzen und Gespräche von und mit lokalen und internationalen Künstler*innen und Aktivist*innen.

 

Von Pauline Michel

Was mir in Stücken von Pina Bausch oft ins Auge sticht, sind die Arme der Tänzer*innen. Wenn sie sich bewegen, wirken ihre Arme oft so lang, filigran und anmutig, dass ich nicht anders kann, als in Bewunderung zu fallen. Ich erinnere mich, wie ich 2014 „Vollmond“ und zum ersten Mal ein Stück des Wuppertaler Tanztheater auf der Bühne sah. Ich saß dort neben meinem Vater. Wir beide waren begeistert und ich erinnere mich auch noch, wie er mir sagte, dass auch er noch nie etwas so Großartiges auf der Bühne gesehen habe.

Beinahe ein Jahrzehnt später stehe ich nun, Mai 2022, auf dem Vorplatz des ehemaligen Schauspielhauses Wuppertal, um das „under construction“-Festival zu besuchen. 48 Stunden soll es bei diesem Festival darum gehen, wie wir in Zukunft tanzen, oder was Tanz für die Zukunft sein kann, oder wie wir gemeinsam eine Zukunft kreieren, in der wir überhaupt noch tanzen können – wie eine klimagerechte Zukunft aussehen kann. Irgendwo und mitten im Festivalprogramm steht natürlich auch die Frage, wie sich das Pina Bausch Zentrum positioniert und in Zukunft mit seinem Erbe umgehen will und damit, das frage ich mich, auch dem Erbe seiner Arme.

Arme #1

Es dauert nicht lange und ich erkenne sie wieder, in Rainer Behrs „Zugvögel“. Auch die Tänzerin Annalisa Palmieri hat sie, diese Arme. Während das Thema Liebe zu Krisenzeiten auf der Bühne verhandelt wird, gleiten ihre Arme während eines Solos durch die Luft; sie kommen zusammen, schlingen umeinander, um dann wieder weite Bögen im Raum zu spannen. Es entsteht genau die Elegie, die auch in vielen Stücken Pina Bauschs zu Tage tritt. Auch die Kombination von Wiederholungen und alltäglichen Bewegungen, die Bühnenausstattung und die Kostüme erinnern sehr stark an ihre Stücke, sodass „Zugvögel“ eine Aura der Nostalgie umgibt.

Das Stück wirkt jedoch nicht nur elegisch, sondern auch sehr gewaltvoll: Annalisa Palmieri und der Tänzer Stsiapan Hurski fallen übereinander her, verfolgen sich oder reißen sich los und umarmen sich dazwischen wieder. Einige Momente des Stückes versinnbildlichen Erstickungsversuche und wiederholt entstehen Bilder, die sich an eine Grenze zwischen Gewalt- und Sexdarstellung bewegen. Beim Zusehen bekomme ich langsam ein ungutes Gefühl in meinem Magen. Als Palmieri mit gesenktem, abwesendem Blick ihren offenen langen Haaren und in rotem Kleid plötzlich stillsteht, während alles andere hektisch bleibt, kann ich mich dem Gedanken nicht mehr verwehren, dass ich die auf der Bühne aufgerissene Darstellung von Geschlecht und Liebe nicht zeitgemäß und daneben noch problematisch finde. Statt häusliche und sexualisierte Gewalt immer noch als verkappten Ausdruck romantischer Liebe zu verklären und zu verharmlosen, sollten wir sie endlich primär als Formen der Gewalt anerkennen und auch das Ausmaß deren Gefährlichkeit. Das Rainer Behrs „Zugvögel“ das nicht tut, liegt nun natürlich nicht allein an den Armen, aber ich denke, dass ebendiese und die mit ihnen entstehende Elegie ein Teil jener verklärenden Darstellung sind. Mit ihnen äußert sich Wehmut und anhaltende Sehnsucht, die die Rolle von Annalisa Palmieri zu Ende des Stückes wohl dazu bringt, in die zum Paartanz ausgerichteten Arme ihres Kollegen Stsiapan Hurski zurückzuwollen.  

Arme #2

Ohne dass es mir sofort auffällt, beobachte ich weiterhin vor allem Arme. Als nächstes die von Sati Veyrunes, die Oona Dohertys „Hope Hunt and the Ascension into Lazarus“ tanzt. Veyrunes nimmt auf der Bühne immer wieder provokante, zumeist als männlich verstandene Gesten ein. Sie streckt die Faust in die Luft oder ihre Mittelfinger nach beiden Seiten. Sie zeigt gezielt und auffordernd ins Publikum und hält inne oder bewegt ihre Arme, als würde sie damit etwas abschütteln und abwehren wollen, rollt ihre Schultern, während sie bestimmt und mit trotzdem lässigem Schritt über den Asphalt läuft. Wieder und wieder wendet sie sich vom Publikum ab, bewegt sich mit Wucht durch den Raum und schmeißt sich zu Boden. Mit ihren Armen und Händen zeigt Veyrunes den Gestus junger Männer in nichtbeachteten Stadtvierteln und sozial-benachteiligten Milieus. Sie lässt soziale wie geschlechtliche Zuschreibungen entstehen, demontiert diese aber gleichzeitig auch: Sie löst sie von einem männlichen Körper ab und zeigt sie in einem anderen Kontext. Auf diese Weise schafft Doherty es, ein komplexes Bild aufzureißen und neben Wut und Frustration auch Momente der Not und der Hoffnung zu zeigen: Ein Stück von Daft Punk wird angespielt, Veyrunes bewegt sich im Raum, während sie um sich selbst kreist: Ihr Gesicht ist ein wenig zur Seite geneigt, ihre Augen sind geschlossen und sie lächelt, während ihre Arme zu beiden Seiten ausgestreckt sind.

Arme #3

Ich sehe mir „Un Cadavre Exquis II“ von Pau Aran Gimeno an, welcher just in der Rolle des Orpheus in Pina Bauschs Tanzoper „Orpheus und Eurydike“ tanzte. Im Jahr 2006 kam Pau Aran Gimeno an das Tanztheater Wuppertal und zu Pina Bausch. In „Un Cadavre Exquis II“ erzählt er von seinem Werdegang als Tänzer und seinem Hintergrund in Modern Jazz, Gesellschaftstänzen bis hin zu seiner Zeit in Wuppertal und lässt einen dabei teilhaben, wie er sich unterschiedlichen Körperlichkeiten und Bewegungen annähert und diese teils mit Witz, immer mit eindrücklicher Sensibilität und voll von Gefühlen darstellt. Seine Arme sind natürlich Teil davon. Mit seinen Händen begleitet er seine Stimme, wenn er das Publikum fragt: „How are you?“ oder „What moves you?“. Er deutet mit ihnen die Position eines*r Tanzpartner*in an, mit der oder dem er sich gemeinsam bewegt; sie lassen mich an Flamenco denken oder verwandeln sich in Jazz-Hände. Immer wieder lässt er Bewegungsformen los und schüttelt sie ab, um sich ihnen dann wieder hinzugeben. Auch seine Zeit am Tanztheater Wuppertal macht sich unverkennbar in den Bewegungen seiner Arme bemerkbar: Wenn er sie sehnsuchtsvoll von sich wegbewegt, als würden seine Arme von einem anderen Ort angezogen werden; wie geschmeidig und fließend sie aussehen; oder wenn er sie eng umwunden und ruhelos um seinen Körper bewegt.

„Un Cadavre Exquis II“ eröffnet einen spannenden Blick darauf, wie sich mit dem Erbe von Tanzformen und Bewegungsqualitäten umgehen lässt – etwa mit den anmutigen Armen Pina Bauschs. Auch wenn Pau Aran‘s Erzählung nicht frei ist von Sentimentalität, verfällt er nicht einer Bewegungsschule und bleibt dieser verhaftet. Stattdessen wandelt er zwischen diesen und changiert dadurch zwischen Nähe und Distanz zu ihnen und lässt sie einander verfärben. Wie Sati Veyrunes nutzt er deren Potential, Referenzen zu bilden und Bezüge erkennbar zu machen. Die anmutigen Arme der Pina Bausch wirken dabei nicht in der Vergangenheit verblieben, wie es einem in Rainer Behrs „Zugvögel“ vorkommen mag, sondern in Aushandlung dessen, was war und was jetzt ist - und das ist umso beeindruckender.

 

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