Der Tänzer, der zum Soldaten wurde

Gastbeitrag von Herbert Schorn

Hilferuf aus der Ukraine: Alexey Potemkin war Solotänzer an der Nationaloper in Kiew, nun verteidigt er die Heimat mit Waffen. Hier sein Bericht an einen Kollegen.

Kiew, 09/03/2022
„Am Tag, als der Krieg ausbrach, hatte ich einen Schock. Ich konnte nicht glauben, was passiert ist.“ In einem bewegenden Brief schreibt Alexey Potemkin, bis vor kurzem Solotänzer an der Nationaloper in Kiew, wie sich sein Leben binnen weniger Tage veränderte – und er zum Kämpfer wurde.

„Ich bin Zivilist, aber als der Krieg begann, wusste ich, dass ich nicht weglaufen kann, sondern zumindest versuchen muss, etwas Sinnvolles zu tun“, berichtete der 33-Jährige am späten Mittwochabend in einer Nachricht an seinen Kollegen Alexander Novikov, der im Mühlviertel wohnt und bis vor wenigen Jahren Solotänzer am Linzer Landestheater war.

Alexey, seine Frau und ihr gemeinsames Kind fanden Unterschlupf bei einem Freund und Veteranen, wo sie sich bei Luftangriffen im Keller verstecken konnten. Alexey, der Freund und weitere Männer begannen, im eigenen Bezirk zu patrouillieren, um mit der Waffe in der Hand ihre Stadt zu verteidigen. Gemeinsam suchten sie an den Häusern nach Merkmalen, die auf den Feind schließen ließen, und nach Sabotage-Gruppen. Mittlerweile konnte Alexeys Familie mit dem Zug aus der Stadt ausreisen. Er blieb und schloss sich einer militärischen Einheit an. „Ehrlich gesagt habe ich große Angst wie noch nie in meinem Leben“, schreibt der junge Familienvater, der in der Heimat ein prämierter Star ist. „Ich weiß nicht, was als Nächstes passieren wird und wie lange ich noch hier sein werde.“

Für Alexander Novikov, der in Kiew Tanz studierte, sind solche Nachrichten schlimm. Seine 72-jährige Mutter, seine Schwester und sein Neffe harren in Kiew aus, sein Vater sitzt in einer anderen ukrainischen Stadt fest. „Männer wie Alexey sind Helden. Sie schützen auch meine Familie“, sagt Novikov. Die Frauen und der Neffe verbringen die Nächte in U-Bahn-Stationen, manchmal müssen sie tagelang unten bleiben. Vor allem um seine Mutter sorgt sich Novikov: „Aber sie ist stark und zeigt vor mir keine Angst.“

In seinem Brief dankt Alexey, der Kämpfer, den Verbündeten der Ukraine, auch Deutschland und Österreich: „Die gesamte zivilisierte Welt muss sich gegen die russische Aggression vereinen. Denn wenn wir fallen, werden die Russen kommen, um eure Städte zu bombardieren.“

von Herbert Schorn (Oberösterreichische Nachrichten)

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