"Sphynx" von Rafaële Giovanola am Staatstheater Mainz
"Sphynx" von Rafaële Giovanola am Staatstheater Mainz

Das Geheimnis des aufrechten Ganges

„Sphynx“ von Rafaële Giovanola hat in Mainz seine Uraufführung

Manchmal reicht eine zündende Idee für ein choreografisches Feuerwerk. Die ehemalige Forsythe-Tänzerin Rafaële Giovanola hat sich für ihre jüngste Kreation bei tanzmainz vom titelgebenden Rätsel der „Sphynx“ inspirieren lassen.

Mainz, 03/02/2022
Der antiken Sage nach fragt die Sphynx nach einem abwechselnd vier-, zwei- und dreibeinigen Wesen, das einzig Ödipus als Mensch in den unterschiedlichen Stadien der Fortbewegung von Kindheit, Erwachsensein und Alter erkannte.

Auf wie viele Arten kann man gehen? Das famose vierzehnköpfige Mainzer Ensemble hat in einer außergewöhnlich langen Probenzeit diese Frage gefühlt hundertfach beantwortet. Anfangs bewegen sich die Tänzer*innen wie an unsichtbaren Schnüren gezogen in geraden Linien über die fast leere Bühne. Schwarze Wandtafeln im Hintergrund und Lichtstreifen auf dem Boden (Lichtdesign: Wil Frikken) sorgen für eine streng geometrische Gliederung des Bühnenraums. Jeder und jede Einzelne entwickelt eine andere Arte zu gehen: von beinahe natürlich bis höchst kunstfertig, von hoch emotional bis verblüffend artifiziell – nicht zu vergessen auch mal sehr lustig. Nebenbei ist die Aufführung eine überzeugende Demonstration dessen, was Tanztheater kann: fantastische Geschichten mit den Mitteln des Körpers erzählen. Nicht umsonst gilt die die Schweizerin Rafaële Giovanola, die seit über 20 Jahren zusammen mit Rainald Endraß die Company CocoonDance in Bonn leitet, als eine der interessanten Künstlerinnen im zeitgenössischen Tanz.

Angetrieben von der elektronischen Auftragskomposition des portugiesischen Musikers Tiago Cerqueira, der mit integrierten Atemgeräuschen und Herzschlagüberwachung ganz dicht an die Protagonist*innen heranrückt, entwickeln die Tänzer*innen ein atemberaubendes Spektrum von Fortbewegung. Es lässt sich nicht nur individuell, sondern auch mit Blick auf gesellschaftliche Trends verstehen: Sie tun sich schwer mit direkten Begegnungen. Nur kurz blitzen Gemeinsamkeiten auf, werden die Bewegungsmuster eines Gegenübers mal nachgeahmt, mal spiegelbildlich variiert oder als entsprechende Körperhohlform regelrecht herausgefordert.

Nach und nach legen die Beteiligten die Schichten individueller Kostümierung ab, bis am Ende Slips und Netzoberteile für alle auf kreatürliche Gemeinsamkeit setzen (Kostüme: Mathilde Grebot). Auch nach einem Beinahe-Breakdown kommt keine innige Zweisamkeit zustande; das direkte Miteinander der Körper ist eher ein Rumpeln und Rangeln, eher opportunistisch und rücksichtslos als sich einlassend. Zum fantastischen Ende finden die vierzehn Tänzer*innen dann freilich doch zu einem einzigen Organismus zusammen. Das Schlussbild ist ein zappelnder 28-Füßler, dessen vielgestaltiger Körper jedem Einzelnen genug Raum gibt, sich auf ganz eigene Weise in die unterschiedlichsten Richtungen zu drehen und zu wenden, ohne aus der Gruppe herauszufallen: eine Vision, die dem Mainzer Premierenpublikum ausnehmend gut gefiel.

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