"Merce Cunningham Centennial" im Pfalzbau Ludwigshafen

"Merce Cunningham Centennial" im Pfalzbau Ludwigshafen

Avantgarde von gestern für morgen

Gastspiel des CCN-Ballet de Lorraine mit einem Cunningham-Programm im Pfalzbau Ludwigshafen

Auch nach dem 100. Geburtstag von Merce Cunningham (1919-2009) zeigt der mehrteilige Abend "Merce Cunningham Centennial", wie konstruktiv das Aufkündigen gängiger Ballettregeln ausfallen kann.

Ludwigshafen, 24/01/2022
Wie kann man ehemalige Tanz-Avantgarde zukunftstauglich machen? Auf diese Frage kann es natürlich keine ein für allemal befriedigende Antwort geben. Viele Stücke, die zur Zeit ihrer Entstehung revolutionär wirkten, sind aus heutiger Zuschauer-Sicht entweder konventionell oder längst zu Klassikern geworden – die sie nie sein wollten. Wie schwierig das Wuchern mit den Pfunden der Vergangenheit sein kann, hat das ehemals von Pina Bausch geleitete Wuppertaler Tanztheater trotz hoher staatlicher Subventionen gezeigt. 2009, im selben Jahr wie die charismatische deutsche Tanztheater-Vorreiterin, starb der wichtigste amerikanische Avantgarde-Choreograf Merce Cunningham. Anders als Pina Bausch hatte er die Chance, sein künstlerisches Erbe noch zu Lebzeiten selbst zu gestalten. Eine seiner erstaunlichen Entscheidungen war es, der eigenen legendären Company nach seinem Tod noch eine zweijährige Abschiedstour rund um den Globus zu gewähren – und sie dann aufzulösen. Cunninghams gesamtes künstlerisches Erbe wurde in die Hände eines Trusts gelegt, der seitdem um zukunftsfähige Konzepte für die Erinnerung an den ersten großen Verfechter des reinen Tanzes ringt.

So hat Petter Jacobsson, künstlerischer Leiter des CCN-Ballet de Lorraine (Nancy) die Rechte für ein „Merce Cunningham Centennial“- Programm (zum hundertsten Geburtstag des Künstlers 2019) vermutlich deshalb bekommen, weil er eine eigene Arbeit beisteuern konnte. Zusammen mit Thomas Caley choreografierte er ein Stück neu, das ursprünglich aus der frühen Zusammenarbeit von Cunningham mit seinem Lebens- und Arbeitspartner John Cage stammt. Die 35-Minuten-Choreografie „For four Walls“ geriet nach der Premiere 1944 in Vergessenheit – nur die Partitur des Klavierstücks wurde wiederentdeckt. Es ist eine für Cage eher untypische, aber spannende Komposition, ein Flirt mit repetitiven Minimal-Music-Techniken, angereichert durch effektvolle Kontraste. Vanessa Wagner spielt live auf der Bühne, mal zupackend, mal mit dem ganzen Körper in die eingebauten Pausen hineinhörend. Zu diesem musikalischen Spannungsfeld konnte das Choreografen-Duo eine eigene Hommage an den großen Choreografen kreieren. Die vier Wände, die dem Stück den Titel geben, bilden als raffinierte Spiegelkonstruktion das Bühnenbild – und zeigen jeden einzelnen der 22 anfangs aufgereihten Tänzerinnen und Tänzer bis zu vierfach. Es ist eine unaufdringliche Jugend (in einheitlicher Kluft aus Shorts und Shirts individueller Machart aus einer zurückhaltenden Farbpalette), die hier in gefühlt überwältigender Anzahl auf der Bühne allmählich die selbständige, freie Bewegung erkundet.

Wo Cunningham das Ballettvokabular gegen den etablierten Strich gebürstet hat („Ballett für die Beine, Modern Dance für den Körper“) lassen Jacobsson und Caley ihre Protagonisten den Tanz aus Alltagsbewegungen entwickeln. Das ist spannend und eindrucksvoll, und dazu passend bleiben die biografischen Anspielungen zum Verhältnis von Cage und Cunningham subtil. Stattdessen gibt es stimmige Bilder für den Aufbruch der Jugend in eine selbst bestimmte Zukunft – heute so aktuell wie im letzten Weltkriegsjahr.

Dem Auftakt nach Maß folgten zwei Cunningham-Stücke, die man dann doch gerne als Klassiker titulieren möchte. Im Stück „RainForest“ (1968) wird der Regenwald nur als Soundkulisse beschworen, die Bühne ist gefüllt mit großen heliumgefüllten Silberkissen, die sozusagen mittanzen. Es ist eine Installation von Andy Warhol, der sich Cunningham leihweise bediente. Sie wird in diesem Stück zum spielerischen Kontrast für die sechs Tänzerinnen und Tänzer in hautfarbenen, aber leicht zerfetzten Kostümen, die der Choreograf in das Spannungsfeld zwischen Tradition und Ursprünglichkeit schickt.

Auch in „Sounddance“ (1975), einem von Cunninghams Rennern, spielt das Bühnenbild eine besondere Rolle. Der plüschige goldene Vorhang des Designers Mark Lancaster mit artifiziellen Raffungen lädt die einheitlich in Leggins und Shirts gewandete Crew so recht zum Durchbrechen ein – und zur Aufkündigung gängiger Ballettspielregeln. Getrieben vom elektronischen Konzeptstück „Untitled 1975-1994“ von David Tudor verströmt die Choreografie Energie pur.

Den Gegensatz zwischen den unbegrenzten Möglichkeiten des elektronischen Zeitalters und den begrenzten Möglichkeiten des menschlichen Körpers hat Cunningham immer wieder ausgereizt. So war der bereits Jahrzehnte vor seinem Tod von schwerer Arthritis gezeichnete Künstler als lebendes Memento Mori öfters live auf der Bühne zu sehen – so auch bei einem unvergesslichen Gastspiel der Cunningham Company in den 90er Jahren auf genau derselben Bühne.

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