Angeblich alt, aber heute noch besser

„Living Positions. Performing Arts Repertoire“ im Wiener Odeon mit zwei Wiederaufnahmen

„Grace Note“ von Chris Haring wird nach zehn Jahren wieder gezeigt.

Wien, 21/10/2022

In der Tat war genau die Umsetzung dieser Idee, wie sie nun von Choreograf Chris Haring und Odeon-Theater-Leiter Max Kaufmann in Wien propagiert wird, fällig: Das Wiederaufnehmen von länger zurückliegenden gehaltvollen Werken aus der freien Szene und solcherart das Eröffnen eines Repertoirespielbetriebs, der sich nicht verstecken muss, weil er eben „Altes“ anbietet. Abseits von Festivals. Was nicht heißen soll, dass bisher niemand markante Werke wiederaufgenommen hätte. Zuletzt war das etwa Bert Gstettner mit der Produktion „Time:Sailors“ aus den 1990er Jahren, die derzeit im Theater Dschungel für junges Publikum läuft. Seinerzeit wirkte da auch Haring mit. Und „Altes“ wiederaufnehmen heißt eben auch, sich neu mit dem Vergangenen befassen.

Während die Wiener Kulturpolitik mittlerweile auch (geringfügig) Geld für Wiederaufnahmen zur Verfügung stellt, ist die Künstler*innenschaft primär der Anforderung unterstellt, stets Neues zu schaffen um Förderungen zu erhalten. Haring und Kaufmann haben nun unter dem schönen Logo „Living Positions. Performing Arts Repertoire“ den Versuchsballon gestartet, in dem sie zwei Produktionen (bis 5. November) mit je drei Vorstellungen anbieten. Die Bezeichnungen „experimentell, genreübergreifend, provokant“ hat man dem Anforderungsprofil noch beigefügt. Aus dem wohl gar nicht kleinen Werkkatalog, würde man die letzten dreißig Jahre des Wiener Tanz- und Performance-Repertoires unter der Bezeichnung „Performances too good to go“ durchleuchten, zeigt Haring mit seinem Ensemble Liquid Loft „Grace Note“ aus dem Jahr 2012 und zieht damit einen Trumpf aus der Tasche. Ist doch genau dieser einstündige Konzert-Tanz, damals hochkarätig produziert u.a. vom Musik-Festival Wien Modern und dem Tanzquartier Beispiel einer heute wieder überzeugenden Kooperation mit dem Komponisten Arturo Fuentes, dem zeitgenössischen Musiker-Ensemble Phace und drei Tänzer*innen, dieses Mal Hannah Timbrell, Luke Baio und Dong Uk Kim.

Das auf Italo Calvino-Zitaten aus „Six Memos for a New Millenium” (1988) und den Titelbezeichnungen „Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit und Vielschichtigkeit“ bauende Bühnenereignis verschmilzt präzise und humorvoll die Performativität von Musikern und Tanzenden auf Augenhöhe. Jeder für sich etabliert seinen physischen Spielort auf dem weißen Bühnenboden. Michael Krenn (Saxophon), Berndt Thurner (Percussion), Roland Schueller (Cello) und Maximilian Ölz (Kontrabass) setzen Fuentes‘ Material-Anweisungen wie Aufrufe zum performativen Dialog in den Raum und werden letztlich zu Mittänzern. Wie eigengesetzliche Transporteure der leichtfüßigen, selten geschichteten Klänge und Texte wirken Harings Performer*innen, die ihrerseits gegen Ende sitzend tanzen.

Wenn am Ende die Stimme des einst als Wiener Aktionisten bekannt gewordenen Günter Brus ertönt, der sich schrullig über das Phänomen Zeit auslässt, weiß man, dass man in Wien ist. Man darf es als Postskriptum hören. „Grace Note“ ist, nachdem nicht Aufhören wollenden Applaus des Publikums, definitiv eine Anwärterin auf noch mehr Abende als „nur drei“. Die Vorgabe des Hausherrn Max Kaufmann, Sohn des legendären Serapionsheater-Gründers Erwin Piplits und der genialischen Kostümkreateurin Ulrike Kaufmann, doch gern mindestens zwanzig und am besten hundert Vorstellungen zu spielen, wie es das Odeon-Ensemble gerne tut, um ein Stück eingespielt zu haben, klingt für den freien Tanz utopisch. Für die Wertschätzung gelungener Produktionen, die neues und altes Publikum (wieder-)sehen kann, mag man sich davon aber ein gutes Stück abschneiden.

 

 

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