Boris Chamatz
Boris Chamatz

Charismatisch, klug, leidenschaftlich, visionär und sprudelnd vor Kreativität

Die neue Leitung für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ist beschlossen. Boris Charmatz kommt zur nächsten Spielzeit nach Wuppertal

Der Aufsichtsrat der weltberühmten Tanztheaterkompanie stellte Charmatz heute auf einer Pressekonferenz vor. Es gelang damit ein Überraschungs-Coup, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Doch lag die Wahl auf der Hand.

Wuppertal, 21/10/2021
Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ist mit den Choreografien der bedeutendsten Vertreterin des Deutschen Tanztheaters ein Prestigeträger der deutschen Tanzlandschaft. Das Ensemble präsentiert die Arbeiten der 2009 vestorbenen Pina Bausch in aller Welt. Umso bedauerlicher, dass es in den 13 Jahren nach ihrem Tod diesem nie wirklich glückte, eine kontinuierliche künstlerische Leitung für das Ensemble zu finden, die das Tanzerbe und das bestehende Repertoire mit neuen innovativen Produktionen zu verbinden vermochte.

Derzeit sind Bettina Wagner-Bergelt (für die künstlerische Seite) und Roger Christmann (geschäftsführend) gleichberechtigt die Interimsleitung des Ensembles. Beide hatten 2018 befristet die Leitung des von Pina Bausch gegründeten Tanztheaterensembles übernommen. Zuvor war es zur Kündigung der damaligen Intendantin Adolphe Binder gekommen, die am ihr vorgesetzten Geschäftsführer Dirk Hesse und der Wuppertaler Kulturpolitik gescheitert war. Im Februar hatten Wagner-Bergelt und Christmann ihren Kontrakt um ein Jahr verlängert, um die wegen der Corona-Pandemie verschobenen Projekte in der Saison 2021/22 zeigen zu können, aber auch um dem Auswahlprozess für die neue Leitung mehr Zeit zu geben. Die lange Auswahlzeit der Findungskommission hat sich gelohnt, denn Wuppertal ist nicht gerade Ort, an den es Choreograf*innen von Weltgeltung zieht und das Aufgabenfeld zwischen der Stiftung, dem Archiv und dem laufenden Vorstellungsbetrieb ist sehr groß. Choreograf*innen müssen mit dem zum Großteil altgedienten Ensemble arbeiten, das Pina Bausch wie eine Familie aufbaute und das weniger als Rein-Raus-Ensemble konzipiert sein kann als andere zeitgenössische Kompanien, die keine Verpflichtung der Repertoirepflege mit sich bringen.

Nun ist mit Boris Charmatz eine Persönlichkeit gefunden, die scheinbar alle diese Fähigkeiten und Interessen in sich vereint – und das spielend, wie es bei der Pressekonferenz schien.

Wuppertals Oberbürgermeister Uwe Schneidewind bezeichnete Charmatz als einen der prägenden Köpfe des zeitgenössischen Tanzes, der einen Brückenbau in die internationale Tanzszene leisten kann, neue Horizonte entwickeln, Transformationen für die neuen Räume in Wuppertal einleiten kann und für künstlerischen Aufbruch steht.

Der Leiter der Findungskommision sprach von einem intensiven vier-monatigen Prozess, der nicht einfach, aber ein tolle Erfahrung war. Dem heutigen Beschluss vorausgegangen war die Arbeit einer Findungskommission aus Expert*innen, Vertreter*innen der Stadt Wuppertal, des Landes Nordrhein-Westfalen und des Ensembles. Unter dem Vorsitz von Bürgermeister Heiner Fragemann gehörten der Kommission Dr. Rolf-Jürgen Köster (Stadt, Aufsichtsrats-Mitglied), Bruno Heynderickx (Hessisches Staatsballett Darmstadt Wiesbaden), Claire Verlet (Programmleitung Tanz, Théâtre de la Ville, Paris), Ruth Amarante und Christopher Tandy als Tänzer*innen und gewählte Ensemble-Vertreter*innen sowie Bettina Milz vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen an. Aus Sicht der Verantwortlichen bringt Boris Charmatz auf besondere Weise all das mit, was für den Zukunftsprozess erforderlich ist: Mut und eine starke künstlerische Arbeit, in der er sich immer wieder neu erfindet, strategische Klarheit, Sensibilität und Respekt für das herausragende Werk von Pina Bausch und das Ensemble, ein internationales Netzwerk und eine sehr fundierte Expertise in den Künsten.

Bettina Milz freute sich, dass im zwölf Jahre langen Prozess das Pina Bausch Zentrum weiter entwickelt werden konnte, damit Wuppertal weiterhin als Tanzmetropole wahrgenommen wird. Wichtig sei dabei ein Ort, der von einer Künstlerpersönlichkeit wie Charmatz geleitet wird, nicht von einer kuratorischen Leitung, damit das Erbe Bauschs als lebendige Praxis fortwähren kann.

Charmatz selbst scheint alle Anforderungen und Wünsche locker zu erfüllen, improvisiert gleich zu Anfang mal einen Tanz im Halbschlaf, spricht davon, dass „wir tanzen werden, um Geschichte zu machen“. Er sei gekommen, um sich der kollektiven Kraft anzuschließen und alle Körper des Ensembles einbeziehen. Er betont wiederholt die Idee der französisch-deutschen Zusammenarbeit und wechselt gleich mal in die französische Sprache, in der er seine Träume und Pläne für Wuppertal sprudeln lässt. Er will in Wuppertal die europäische Moderne einbeziehen: von Valeska Gert über Rainer Werner Fassbinder bis zu Raimund Hoghe, will Risiken eingehen und massiv in das 21. Jahrhundert eintauchen, das sich in letzten 13 Jahren so gewandelt hat. Zu diesem Abenteuer soll auch ein Tanztheater ohne Dach und ohne Mauern, das Spielen und Proben im öffentlichen Raum gehören, "ohne Angst zu haben, nass zu werden". Charmatz will experimentieren und radikaler werden, das Werk einer neuen Welt entwickeln und gleichzeitig soll die Kompanie Weltkulturerbe werden. Wenn das keine Vision ist!

Boris Charmatz ist Tänzer und Choreograf und zählt weltweit zu den wichtigsten Erneuerern der Tanzkunst. Seine Arbeiten sind auf den großen Bühnen und Festivals der ganzen Welt vertreten, er war Associated Artist beim Festival D`Avignon 2011, Gast der Pariser Oper hat eng mit Ausnahmekünstler*innen wie Anne Teresa De Keersmaeker, Meg Stuart, Tino Seghal und vielen anderen internationalen Künstler*innen zusammengearbeitet. Neben seinen Ensemble-basierten und demokratisch erarbeiteten Bühnenarbeiten hat er Stücke und Performances im öffentlichen Raum vieler Städte sowohl in Frankreich wie auch in Europa präsentiert, zuletzt in Manchester, Berlin und Brüssel. Er hat seine Arbeit in bedeutenden Museen gezeigt, so im MoMA in New York, der Tate Modern in London und auf der Triennale von Mailand. Darüber hinaus ist die Bewahrung der choreografischen Geste einer der Schwerpunkte der Arbeit von Boris Charmatz. Unter seiner Leitung wurde das Centre Choréographique de Rennes et de Bretagne zwischen 2009 und 2018 zum lebendigen „Musée de la danse“. Die Voraussetzungen sind erfüllt, um die Kompanie in die Zukunft zu führen. Hoffentlich fällt Charmatz' Begeisterung nun auf Gegenliebe.

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