Rhythmik neu gesehen

Neuerscheinung: „Rhythmik - Musik und Bewegung. Transdisziplinäre Perspektiven“

Die Publikation von Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise und Dierk Zaiser, vergangenes Jahr erschienen beim transcript Verlag, zeigt neue und vielfältige Perspektiven der zeitgenössischen Rhythmik auf.

Bielefeld, 04/03/2020

Von Stephanie Schroedter

Mit jener Rhythmik, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als Aufruf zu einer ganzheitlichen Erziehung euphorisch aufgenommen, dabei auch gründlich missverstanden, wenn nicht sogar missbraucht wurde, hat dieser Band wenig zu tun – das zeigt bereits ein erster Blick in das beachtlich breit abgesteckte Inhaltsverzeichnis: Am Beginn stehen neue Auslotungen der Ursprünge dieses heute an diversen Bildungseinrichtungen praktizierten, künstlerisch-pädagogisch ausgerichteten Fachs. Aktuelle Tendenzen im Hochschulsektor werden durch Ausführungen zu neuen fächerübergreifenden Vorstößen auf internationaler Ebene ergänzt. Anschließend werden vielfältige Bedeutungsdimensionen einer (im weitesten Sinne) ‚rhythmischen‘ Verbindung von Musik und Bewegung durch spezifisch fachtheoretische Zugänge exemplifiziert, bei denen auch transkulturelle Perspektiven zum Tragen kommen. Explizit als transdisziplinär deklarierte Ansätze weiten diesen Rahmen, indem sie Bewegungsrhythmen als essentiell für unsere Wahrnehmungskompetenz und damit auch für unsere ästhetische/kulturelle Bildung herausarbeiten. Die hierzu erforderliche unmittelbare Bezugnahme auf den eigenen Körper/Leib, gleichsam als Ausgang und Endpunkt jeglicher Wahrnehmungsaktivität, veranschaulicht auch ein profunder Exkurs in somatische Praktiken. Abgerundet wird der Band schließlich durch praxisorientierte bzw. dezidiert praxeologische Ansätze, bei denen innovative Unterrichts- und Performancekonzepte eingehend reflektiert oder pointiert kommentiert werden. Zwischen diesen Beiträgen finden sich insgesamt 16 „Spots“, die über die Buchränder hinaus mit vielfältigen Überraschungen aufwarten: Knappen, auch poetisch konzipierten Texten sind QR-Codes angefügt, die zu Audio- und Videodateien mit frappierenden Einblicken in performative Erfahrungsräume führen. Es empfiehlt sich also, bei der Lektüre dieser Beiträge ein Smartphone mit Scanner-App griffbereit zu halten!

Summa summarum zeigt sich für Rhythmik-Absolvent*innen ein breites Spektrum möglicher Berufsfelder, die zwischen Musik und Tanz changieren – zumal sie durch ihre „fachimmanente Transdisziplinarität“ (Dorothea Weise) in besonderem Maße dafür sensibilisiert werden, künstlerische bzw. disziplinäre Differenzen konstruktiv, d.h. kritisch reflektierend aufzugreifen und kreativ zu transformieren. Dass sich hieraus auch neue theoretisch relevante Erkenntnisse generieren lassen, zeigt der vorliegende Band aus verschiedensten Blick- und Hörwinkeln eindrucksvoll auf: So legt Dorothea Weise mit Bezug auf Wittgensteins Sprachphilosophie dar, dass Bewegungsgestaltungen in der Rhythmik häufig zwischen einem „Zeigen“ und „Sagen“ schwanken – wobei das Zeigen musikalisches Geschehen verstärkt, während es durch ein Sagen transformiert wird. Rhythmus könne dabei als „Verlaufsform von Aufmerksamkeit“ im Wechselspiel mit verschiedensten Künsten verstanden werden, bei denen sich „Erfahrungs-Gestalten“ herausbilden. Um das für die Rhythmik so zentrale Thema der Gestaltung geht es auch in den Ausführungen von Dierk Zaiser, der hierbei „Das Individuelle“, letztlich ein Bemühen um Authentizität auf der Basis von Improvisation, in den Vordergrund rückt. In Anbetracht des weiterhin anhaltenden, (allzu) dominanten Einflusses westlicher Musiktraditionen auf den asiatischen Kulturraum können die „Gedanken zu einer kultursensiblen Rhythmik“ von Cheng Xie nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit dem Trias „Motio – E-Motio und Musik“, jenem Wechselspiel zwischen physischen, psychischen Bewegungen und Musik, das sich vermutlich als Herzstück der Rhythmik umschreiben lässt, befasst sich Homrike Oesterhelt-Leiser auf der Basis ihrer langjährigen Unterrichtspraxis. Dem fügt Franz Mechsner hinzu, dass Bewegung eine „Kunst, Wahrnehmung zu organisieren“ sei, die er dementsprechend auch als einen primär mentalen (nicht motorischen) Vorgang versteht.

Bemerkenswert facettenreiche Ansätze zu einer praxeologisch orientierten Rhythmik bietet Marianne Steffen-Wittek, die auch gleich mit vier Beiträgen (teilweise als Co-Autorin) in dem Band vertreten ist und dabei den Bogen von einem bewegungsorientierten Musiktheorieunterricht zu einem musikalischen Austausch mit jugendlichen Delinquenten spannt. Die Artikel von Maria Spychinger, Constanze Rora und Roswitha Staege kreisen um Herausforderungen einer zeitgemäßen körper- und bewegungsorientierten ästhetischen Bildung, wobei Rora vor allem (musik-)philosophisch-phänomenologisch argumentiert, Staege deutlicher (musik-)pädagogische Akzente setzt, während bei Spychinger insbesondere (musik-)psychologische Perspektiven zum Tragen kommen. Bei Elisabeth Theisohn avancieren Körper und Bewegung durch theoretisch ausgefeilte Argumentationen zu „Konstituenten musiktheoretischen Denkens“, während Bettina Rollwagen und Elisabeth Pelz am Beispiel der Phrasierung als einem von der Musik ausgehenden und doch weit über sie hinausreichenden Phänomen therapeutische Anwendungsfelder der Rhythmik aufzeigen. Sabine Vliex bietet didaktisch vorbildlich aufbereitete Beispiele zum Einsatz von Percussion-Instrumenten im frühmusikalischen Unterricht ein. Ihnen folgen deutlicher performativ akzentuierte Ansätze, wobei Kurt Dreyer sehr bezwingende, im wörtlichen Sinne plastische Bezüge zur Bildenden Kunst herstellt, um seinem Verständnis von „Gestalt geben“ Ausdruck zu verleihen. Hanne Pilgrim widmet sich kreativen „Transfer- und Transform-“ Prozessen und hebt in diesem Zusammenhang sehr nachdrücklich Spezifika der Rhythmik hervor, für deren ‚Inhalte, Ziele und Methoden das Erforschen der Wechselwirkungen von Musik und Bewegung zentral seien‘. Mit Peter Jarchow kommt schließlich ein (im allerbesten Sinne) Altmeister der pianistischen Improvisationskunst zu Wort. Sein Beitrag schöpft aus einem jahrzehntelangen Erfahrungsspektrum und stellt dabei augenzwinkernd unter Beweis, auf welchen Balanceakt man sich einlässt, wenn es gilt, die vermutlich flüchtigste Bewegungskunst (verbal) zu fixieren. Und so schließt auch der Reigen der vielfältigen Annäherungen an das Fach Rhythmik mit einem großen Fragezeichen – vielleicht als Ausblick: „Warum machen die das?“ überschreibt Wicki Bernhardt ihre „Gedanken zum lustvollen Nichtverstehen in Performance“, die hermeneutisch vorauseilendem Gehorsam oder anderen gesellschaftlichen Konditionierungen eine humorvoll-hintersinnige Absage erteilen.

Was bleibt als Gesamtbild dieser rhythmischen Standortbestimmung – 70 Jahre nachdem Émile Jacques-Dalcroze die Bühne seines Lebens verlassen hat? Unverkennbar ist vor allem die Aufbruchstimmung, die derzeit den Ton angibt und in ihrem Bestreben nach Grenzüberschreitungen (Transdiziplinarität, Transkulturalität etc.), Diversität und Inklusion weder vor den aktuellen Herausforderungen soziokultureller Peripherien bzw. gesellschaftspolitischer Brennpunkte zurückschreckt, noch Berührungsängste mit zeitgenössischem Tanz, Theater und Performance zeigt. Die große Chance der Rhythmik besteht vor allem darin, Musik und (Körper-)Bewegung als anthropologische Grundkonstanten zu verstehen und mit ihrem praxeologisch fundierten Wissen jenes Vakuum, das so häufig zwischen hör- und sichtbaren Bewegungen – im Alltag, in Kunst und Kultur – aufklafft, zu füllen. In ihrem aktuellen Zuschnitt wohnt der Rhythmik das Potenzial inne, an dieser Stelle ein Spannungsfeld aufzubauen, zu formen und gestalten, das zwischen Kreativität, Emotion und Imagination changiert, vor allem aber: uns mit allen Sinnen packt!

Marianne Steffen-Wittek/ Dorothea Weise/ Dierk Zaiser (Hg.): Rhythmik – Musik und Bewegung. Transdisziplinäre Perspektiven, transcript Verlag 2019, 446 Seiten, ISBN: 978-3-8376-4371-8, 39,99 EUR

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