„Almost nothing“ von Maria Chiara de’Nobili

„Almost nothing“ von Maria Chiara de’Nobili

Nachtmahr bei Tage

Maria Chiara de’Nobili macht mit „Almost nothing“ in Dresden Alzheimer sichtbar

Ihre bisherigen Arbeiten haben gezeigt, dass sie einen sicheren Zugriff auf ihr Material hat. Genau deshalb kann sich die Palucca-Absolventin auch auf ein psychologisches Gebiet wagen, auf dem der Boden unter den Füßen entzogen wird.

Dresden, 20/09/2020

Frédéric Coupet ist ein alter Mann. Nicht in Jahren, aber im Kopf. Nicht er selbst, sondern der Mann, den er im Japanischen Palais der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gibt: gebrochener Blick, keine Haltung, zittrig, unkoordiniert, an den Füßen nur ein Schuh. Selbst die simple Tätigkeit des Fegens des Bodens will nicht mehr gelingen. Dem System ist die Systematik abhanden gekommen. Dieser alte Mann leidet an Alzheimer und bleibt damit ganz allein in sich selbst. Dieses Innere, diese Prozesse, die da ablaufen, das Wirrwarr, jeglicher Blöd-Sinn wird mit der Choreografie sichtbar gemacht, mit der Maria Chiara de’Nobili ihre Master-Arbeit im Studiengang Choreografie an der Palucca Hochschule für Tanz Dresden vorgelegt hat. Ihre bisherigen Arbeiten haben gezeigt, dass sie einen konzentrierten, sicheren Zugriff auf ihr Material und dessen Umsetzung hat. Genau deshalb kann sie es auch wagen, sich mit dem Thema Alzheimer auf ein psychologisches Gebiet zu begeben, auf dem jedem der Boden unter den Füßen entzogen wird. Und das Wagnis gelingt ihr absolut.

Sie bekommt darin Unterstützung von Giulia Rosso, Ben Beppler und Philip Lehmann, die als Performende Teile, Aspekte und Bruchstücke der Persönlichkeit des an Alzheimer erkrankten Mannes sichtbar machen. Sie sind tatsächlich erkennbare Erweiterungen dieses einen Menschen. Philip Lehmanns Kostüm ähnelt nicht nur im Konzept dem des Erkrankten; auf seiner Hose sitzen Flicken aus dem gleichen Stoff, aus dem die Socken des psychisch deutlich Eingeschränkten gestrickt sind.

Stricken tut sich dieses Psychogramm wie von selbst, dabei aber gänzlich frei von psychologisierender Schwere. Die Spätsommersonne fällt durch die hohen Fenster des Japanischen Palais. Eins davon steht offen, man kann die Straßenbahn vorbeiziehen sehen. In diesem Moment passt eigentlich alles. Nur eben nicht im Kopf dieses einen Mannes. Es scheint, als wäre er früher, in einem wirklich ganz anderen Leben, Tänzer gewesen. Fast übersehbar kommt immer mal wieder die Körperspannung zurück, die einen geistig Anwesenden ausmacht. Dann nimmt Frédéric Coupet Haltungen und Positionen ein, die nicht nur dem Tanz zu entstammen scheinen, die aber vor allem eine verloren gegangene Person und deren Kraft erkennen lassen. Da war mal etwas, er war mal jemand

Neben ihm bewegt sich als Abbild seines Inneren Absurdes, Leeres, nicht Zielgerichtetes. Das ist abgründig und, ja, auch grotesk. Nicht im amüsanten Sinn. Vielmehr hat der Kontrollverlust etwas Beruhigendes. Es scheint nämlich nicht so, als leide der Kranke, was natürlich die Frage nach der Definition des Begriffes Krankheit aufwirft. Wenn man morgens erwacht und niemanden erkennt oder niemanden kennt, mag dieser Umstand in der Theorie beängstigend wirken. Wer aber frei von allem ist, hat keine Angst mehr. Am Ende ist es egal, wie viele Seelen, ach, in meiner Brust. Die unzähligen Post-its an der Wand mit den punktuellen Ermahnungen, das Bügeleisen aus- oder das Hörgerät einzuschalten, fallen zu Boden. Vielleicht steht auf ihnen auch etwas ganz anderes. Man kann es nicht lesen. Das Publikum nicht und vielleicht auch nicht dieser Mann, der friedlich ganz weit draußen ist. „Freedom is just another word for ‘Nothing’s left to lose’“, meinte Janis Joplin.
 

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