NDT2 mit „mutual comfort“ von Edward Clug

Steps in der Nordwestschweiz

Das biennale Tanzfestival Steps feiert 2018 sein 30-jähriges Jubiläum und glänzt mit einem hervorragenden Programm

In Basel und Lörrach zu Gast sind das NDT2, L-E-V, die Compagnie Greffe der belgischen Choreografin Cindy van Acker, das deutsch-französische Choreografenpaar Wang Ramirez und Studierende aus Lausanne und Zürich.

Basel, 04/05/2018

Dass ein Tanzfestival weltbekannte Kompanien empfängt, ist freilich keine Besonderheit. Dass es sie auf eine Festivaltour durch das ganze Land schickt, schon. Das Migros-Kulturprozent Tanzfestival Steps ist in seiner Form einmalig und präsentiert 2018 unter dem Motto „Mut“ dem Schweizer Publikum im Nordwesten ein wundervolles Tanzprogramm.
Beispielsweise die Kompanie L-E-V, die 2013 von der mittlerweile unglaublich erfolgreich arbeitenden Choreografin Sharon Eyal gegründet wurde. Sie zeigen an zwei Abenden in der Kaserne Basel ihr preisgekröntes Stück „Love Chapter 2“. Steps ist Koproduzent dieses Abends, der hervorragend in die Spielstätte passt. Fand die Premiere im vergangenen Herbst im Theater Freiburg auf einer riesigen Bühne statt, so passt sich L-E-V perfekt an die kleineren Dimensionen in der Kaserne an. Es tanzen diesmal nur fünf Tänzer*innen – Rebecca Hytting, Mariko Kakizaki, Keren Lurie Pardes, Gon Biran und Darren Devaney – und das Publikum ist viel näher dran an der Dringlichkeit dieses herzzerreißenden Stücks. Die Live-Musik von Ori Lichtik erfüllt den Raum in voller Gänze und es scheint, als habe sich die Kompanie in „Love Chapter 2“ eingetanzt und ihm mittlerweile mehr Herz und Schmerz einhauchen können. Das würdigt das Publikum in der ausverkauften Kaserne zu Recht mit lautem und lang anhaltendem Applaus.
Ebenso euphorisch wird der Abend des NDT2 im Theater Basel aufgenommen. Die weltbekannte Juniorkompanie des Nederlands Dans Theater präsentiert vier anspruchsvolle Choreografien namhafter Tanzschaffender. „I New Then“ von Johan Inger, „Short Cut“ von Hans van Manen, „mutual comfort“ von Edward Clug und „SH-BOOM!” von Sol Léon & Paul Lightfoot. Sie beginnen mit Johan Ingers „I New Then“, das momentan auch am Luzerner Theater bei „Tanz 27: Roll ’n‘ Rock it!“ gezeigt wird; am Theater Basel ist außerdem Ingers persönliche Interpretation von Henrik Ibsens „Peer Gynt“ zu sehen. Johan Inger und die Schweiz sind sich aktuell also sehr nah. „I New Then“ wurde 2012 ursprünglich für das NDT2 konzipiert und verhandelt das Aufbegehren einer Gruppe und den Wunsch jedes Einzelnen nach Individualität. Entlang einiger Songs des irischen Rockmusikers Van Morrison leben in dieser Choreografie die brennenden, leidenschaftlichen 1960er Jahre wieder auf. Und passend zum Stück, in dem es ja um eine Gruppe geht, in der sich jeder behaupten will, fällt eine Figur ganz besonders auf: ein junger Mann, der an seiner Eifersucht verzweifelt, an den Anforderungen des Lebens zugrunde geht und den Boden unter den Füßen verliert. Der Tänzer Guido Dutilh brilliert in dieser anspruchsvollen Rolle und geht vollkommen darin auf. Auch in „SH-BOOM!“, der letzten Choreografie des Abends, sticht er hervor. Wie schon im Musikvideo „Tune In Tune Out“ der Band CUT_ stellt er sein Talent und seinen Tänzerkörper zur Schau. „SH-BOOM!“, das 1994 von Sol León & Paul Lightfoot erarbeitet wurde und 2004 mit dem NDT1 Premiere feierte, hat bei Steps seine Schweizer Erstaufführung. Humor und Ironie treffen auf grundlegende Themen menschlichen Daseins (Herkunft, Angst, Gemeinschaft), werden mit tänzerischem Slapstick umgesetzt und verlangen nach absoluter Körperbeherrschung. Wie schon bei den Vätern des filmischen Slapsticks – Buster Keaton und Charlie Chaplin – ist Schnelligkeit das Element, das alles rhythmisch zusammenhält. Die beiden Choreografien „I New Then“ und „SH-BOOM“ rahmen nicht nur perfekt diesen NDT2-Abend, sondern stellen das Können dieser herausragenden Kompanie unter Beweis. Dass es eine Kompanie im wahrsten Sinne ist, zeigt sich beim Schlussapplaus: Alle 20 Tänzer*innen der Juniorkompanie stehen auf der Bühne, obwohl nur zwölf davon tanzten.
Den spannenden Kontrast zum NDT2 bilden die Schweizer Tanzbachelors der 2014 gegründeten Studiengänge aus Zürich und Lausanne. Bei ihrem Abend „TakeOff!“ im Burghof im deutschen Lörrach füllen Studierende der Hochschulen Manufacture Lausanne und der ZHdK Zürich erstmals gemeinsam einen Abend mit fünf ganz unterschiedlichen Arbeiten. Von Steps koproduziert, fand am 16. April in der Gessnerallee in Zürich die Premiere statt. Den Anfang machen die Studierenden der Manufacture Lausanne mit der Performance „Manufactured“. Darin zeigen sie zwar, was sie können – tänzerisch wie konzeptionell –, doch wird genauso deutlich, dass sie noch ihre klare Linie finden müssen. Sie konnten hinter ihr gewähltes Thema (der Herstellung von Dingen und dem Umgang mit Materialien) noch keinen Punkt setzen. Es hätte ihrer doch sehr klugen und langen Performance geholfen, sich für nur einige der dargebotenen Szenen zu entscheiden, sie zu verdichten. Die Studierenden der ZHdK haben sich für ihre Darstellung hingegen für drei kürzere Stücke entschieden. In „Chromatic colloquy“ spiegeln sich Renato Cinquegrana und Andrea Landolfi. Die gesamte Bühne nutzen und betanzen die Studierenden dann in „let us find“, in dem menschliche Begegnungen thematisiert werden. Und schließlich beweisen sie sich in „For Heaven’s Sake“, das 2001 vom israelischen Choreografen Itzik Galili für das Holland Dance Festival erarbeitet wurde. Den Abschluss von „TakeOff!“ bildet eine gemeinschaftliche Arbeit der beiden Universitäten in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Tanzschaffenden Michael Schumacher. In weiße, flatternde Kostüme gehüllt lassen sie in „Subject to change“ ihren individuellen Tanzstilen freien Lauf. Dass es bei einem riesigen Festival wie Steps eine solche Plattform für das künstlerische Schaffen des Nachwuchses gibt, zeugt von großer Liebe und Leidenschaft für den Tanz.
Wie gut eine klare Linie und eine durchdachte Performance aussehen können, ist in der Kaserne Basel bei „Speechless Voices“ zu bewundern. Die belgische Choreografin Cindy van Acker – die auch schon mit der Manufacture Lausanne gearbeitet hat – zeigt mit ihrer Compagnie Greffe (Cie Greffe) ein von Steps koproduziertes neues Stück. Darin werden pointiert und deutlich die Formationen und Strukturen von Liebe, Freundschaft und gesellschaftlichen Gruppen analysiert und performativ konserviert. Beeinflusst wurde Cindy van Acker von Werken des belgischen Künstlers Michaël Borremans. Platziert Borremans seine Charaktere in weiße Räume und verdüstert durch Figuren in Ganzkörperkostümen die Szenerie, so ist bei Cindy van Acker ein ähnlicher Raum zu finden. Die Bühne wirkt wie ein verlassener Museumsraum. Die Wände, die im Bühnenbild platzierten Möbel und die zu erkennenden Formen und Figuren sind als Schutz vor dem Staub der Zeit mit riesigen, weißen Laken bedeckt. Cindy van Acker selbst beginnt die Performance, indem sie links vor der Bühne eine Platte auflegt. Ein Kinderlied ertönt und formt eine gemütliche Stimmung, die gleich darauf durch intensives Stroboskoplicht und unglaublich laute, stressige, elektronische Töne gebrochen wird. Ein Horrorszenario, in dem sich das Bühnenbild gleich einer Diashow verändert – die Laken verschwinden und eröffnen somit immer Neues. Ihre sechs grandiosen Performer*innen – Stéphanie Bayle, Laure Lescoffy, Raphaele Teicher, Daniela Zaghini, Matthieu Chayrigues und Rudi van der Merwe – positionieren sich bald in klaren Stellungen und starren Formationen. Durch die Ruhe, die Langsamkeit und das Stehenlassen wirken die gewählten, geometrischen Tableaus menschlicher Annäherungen und Sich-Abwenden umso intensiver. Die Performance scheint wie ein Archiv abstrakter Erinnerungen, konserviert in einem musealen Bühnenraum. „Speechless Voices“ ist auch eine Hommage an die Musikkompositionen des 2017 verstorbenen Mika Vainio. Zu ihm pflegte van Acker eine intensive Arbeitsbeziehung; ihre Kommunikation funktionierte oft ohne Worte. Im Programmheft von Steps heißt es, dass „‘Speechless Voices‘ eine gemeinsame Sprache erfinden, die den Raum füllt, die die Körper der Zuschauer durchfliesst und die sich mit anderen verbindet“. Und genau das ist passiert, die Performance dringt durch ihr szenisches Verharren tief ins Bewusstsein und die Erinnerung ein.
Die Kompanie Wang Ramirez arbeitet im Kontrast dazu mit ganz anderen Materialien. Dem Rigging, einer Form des Aerial Dance, riesigen Gebilden auf der Bühne und dynamischen Tanzstilen, wie Hip-Hop und Martial Arts. Wie schon in „Borderline“ (2013) sind es auch in „EVERYNESS“ feste Bestandteile der Choreografie. Honji Wang und Sebastien Ramirez, privat miteinander liiert, präsentieren im Burghof Lörrach ein Stück, das die Liebe und all ihre Probleme thematisiert. Die fünf Tänzer*innen – Honji Wang, Joy Alpuerto Ritter, Salomon Baneck-Asaro, Alexis Fernandez Ferrera (alias Maca) und Sébastien Ramirez – sind zu Beginn aufgereiht, bis sich Anziehungskräfte erkennbar machen. Diese werden von zwei der Tänzer*innen durch das Rigging ausgespielt, bis sie wieder auf ihre Ausgangsposition zurückgezogen werden. Das zweite Material, der riesige Stoffball, fungiert erst als ein Kleidungsstück und wird von Honji Wang auf dem Rücken getragen. Assoziationen an Brautkleid, Last, aber auch Schutz kommen auf; bis sich der Stoff aufbäumt und als Vollmond, Hindernis und Lichtquelle über die Bühne schwebt. Es folgen die unterschiedlichsten, tänzerischen Episoden, in denen die Liebe hinterfragt, Eifersucht porträtiert und das emotionale Zusammenspiel von Menschen dargestellt wird. Doch ist diese Sprunghaftigkeit in der Darstellung teilweise anstrengend und mühsam, was allerdings auch wieder perfekt zum Thema der sich wandelnden und wechselnden Emotionen passt.

Das von der künstlerischen Leiterin von Steps, Isabella Spirig, so deutlich angesprochene „diffuse Unbehagen“ und „ein undefinierbares Gefühl der Unsicherheit“ bezüglich der politischen Weltenordnung sind in den Choreografien, die man in Basel und Lörrach sehen kann, eher weniger wahrnehmbar. Hauptsächlich die älteren Choreografien können nur rückwirkend deutliche Interpretationen erfahren. Die neueren Arbeiten beschäftigen sich hauptsächlich mit emotionalen Themen; vor allem Liebe, Freundschaft, Gesellschaft und Gemeinschaft. Und das sind doch Bereiche unser aller Leben, die es unbedingt positiv auszuleben und zu festigen gilt, nur Mut!

 

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