Von Wuppertal in die Welt
Die Pina Bausch Ausstellung ist nun auch in Berlin zu sehen
Das Kino ist nicht denkbar ohne Tanz und Musik. Eigene Genres bilden der Musikfilm, Revuefilm, Operettenfilm, Musicalfilm, Tanz- und Ballettfilm unterschiedlichster Stile. Argentinien, Pionierland des Stummfilms, reüssierte mit dem Tango-Film. Im Teil 4 des Ufa-Dokumentarfilms „Wege zu Kraft und Schönheit“ (D 1925) tanzt Niddy Impekoven „Das Leben der Blume“ und den „Münchener Kaffeewärmer“, wandern Mädchen schreitend in der Landschaft hinter Mary Wigman, ist Tamara Karsawinas Tanzkunst in Zeitlupe zu bestaunen. Wer sinnlich erfahren möchte, wie sich Tanz und Film in internationalen Kinoproduktionen in kreativer Wechselbeziehung von den Anfängen der Stummfilmära bis zu den YouTube-Clips der Gegenwart entwickelt haben, dem seien die Potsdamer Sonderausstellung und die neue Buchpublikation sehr empfohlen.
Spiegelflächen und eine Fülle szenischer Artefakte umfangen den Besucher in fünf spannend zu erkundenden Kabinetten. Auf Leinwänden drehen und springen Filmidole von den frühen Anfängen bis zur Tanzmoderne. Kopfhörer hängen von der Decke und der Besucher bekommt sofort Lust, mit Tatjana auf dem Ball in „Onegin“ (UK/USA 1999) mit zu tanzen oder im kontrapunktischen Zeitsprung Teil des Dancefloors in „Der Nachtmahr“ (D 2015) zu sein. Der erste Raum ist ganz auf die komplexe Beweglichkeit der Kamera in Ballsälen, Diskotheken und Clubs ausgerichtet. Das Licht umspielt die tänzerische Bewegungsektase in der Begegnung unterschiedlicher Geschlechter und Altersgruppen.
Der Drive des beginnenden 20. Jahrhunderts, hörbar gemacht in den elektrisierenden Kompositionen von Igor Strawinsky und sichtbar werdend in den bewegten Bildern des Kinozeitalters, ist international von Anfang an mit dem Tanz verbunden. Die sich rasant verändernde Lebenswelt seit der Jahrhundertwende taumelt in den Strudel der ästhetischen Beschleunigung. Die Dynamisierung des Lebens im Maschinenzeitalter der urbanen Metropolen führt zur Explosion des Rhythmischen in Revue- und Gesellschaftstänzen, zu gesellschaftlichen Reformbewegungen, sich ständig wandelndem Konsumverhalten und Modetrends.
Das neue Medium Film ist in der Lage Bewegung in unterschiedlichen Montagetechniken und Lichtzauber aufzuzeichnen; der tanzende Mensch lebt auf der Leinwand. Die Amerikanerin Loie Fuller arbeitete als Erste mit farbigen Lichtprojektionen und elektrischem Licht auf der Bühne und ließ sich ihr Serpentinentanz-Kostüm bereits 1894 patentieren. Tanz als Raum-Zeit-Kunst voller Dynamik, Emotionalität, Sinnlichkeit und Verführung findet nun jenseits der Theaterbühne auf der großen Leinwand ein breites Spektrum an neuen Ausdruckmöglichkeiten und gewinnt weltweit ein (zahlendes) Millionenpublikum.
Die Ausstellung aus eigenem Bestand sowie mit Leihgaben renommierter Filmmuseen und Tanzarchive, spannungsvoll-spielerisch arrangiert und zweisprachig (deutsch/englisch) klug kommentiert, zieht den Betrachter suggestiv in ihren Bann. Originalkostüme, Requisiten, Plakate, Fotos, Drehbücher und natürlich die Fülle an raffiniert auf inhaltliche Zusammenhänge von Gesellschaft und Zeitgeist verweisenden Filmszenen fokussieren hundert Jahre Tanz-, Film- und Zeitgeschichte im internationalen Kino, wobei Osteuropa unterbelichtet erscheint und Verweise auf Choreografen an Filmsets fehlen.
Videoinstallationen erhellen anschaulich, wie die Revuen und Chorus-Lines der Tanztruppen der 30er-Jahre militärische Bewegungsformationen normierter Körper in Drill und Gleichschritt auf die internationale Filmbühne übertragen. Faszinierend in der filmischen Gegenüberstellung auch „Salome“ (USA 1923) und Carlos Sauras inhaltlich völlig anders konzipiertes Flamenco-Solo einer „Salome“ (Spanien 2002).
Der Blick durch den ‚Bauchnabel’ einer erotischen Tänzerin gewährt Einblicke in die raren Zensurschnitte der Nackttänze; nur einunddreißig Sekunden dauert der „Schleiertanz“ (1907) der Adorée Villany. Charismatisch tanzen auch Anita Berber, Valeska Gert und die langbeinige Stepp-Virtuosin Josephine Baker als Solistinnen zwischen Varieté und Film gegen Pseudomoral an.
Musik, Tanz und Natur verschmelzen in der Ufa-Produktion „Der heilige Berg“ (D 1926) im Tanzsolo der Leni Riefenstahl vor den Klippen Helgolands. Regisseur Franck doubelt das Wogen der Wellen mit ihren Ganzkörperschwüngen teils in Zeitlupe, Nahaufnahme und Ortswechsel. Auch Isadora Duncan tanzt 1921 barfuß um Zypressen, raffiniert geschnittenen und koloriert. Aus der Perspektive der Seitenbühne erlebt der Ausstellungsbesucher die dänische Stummfilmdiva Asta Nielsen in einem erotischen Lasso-Tanz mit Partner in „Afgrunden“/“Abgründe“ (DK 1910). Auch Greta Garbo spielt virtuos auf der Klaviatur von Tanz und Verführung als „Mata Hari“ (USA 1931).
Der Schauwert der Hollywood-Choreografien und der deutschen Revuefilme ist enorm. Tonfilm-Operetten bringen mitten in der Weltwirtschaftskrise die gesamte filmische Welt zum Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit; nicht nur Lilian Harvey, sondern auch die Stühle der Diplomaten tanzen bei Erik Charell im Walzertakt in „Der Kongress tanzt“ (D 1931).
Im Genre des Film-Musicals der Nachkriegsjahrzehnte feiert Tanz als schönere Form des Gehens und Gesang als schönere Form des Sprechens mit Fred Astaire, Ginger Rogers, Gene Kelly und den jungen Heißspornen in „West Side Story“ Triumpfe; „Fame“ oder „Dirty Dancing“ wurden Welterfolge. Chris Doerk, Frank Schöbel und ihre Jugendcliquen sangen und tanzten zur Musik von Gerd und Thomas Natschinski im äußerst populären DEFA-Erfolg „Heißer Sommer“ (DDR 1967/68) von Leipzig nach Rügen. Der Bogen spannt sich mehrfach zu den Produktionen der Babelsberger Filmstudios, die als lebende Ikonen des Zeitgeistes über Jahrzehnte ein Millionenpublikum beweg(t)en.
Backstage-Filme erzählen (fiktiv oder biografisch) von Tänzerinnen und Tänzern, ihren Krisen, Sehnsüchten und triumphalen Erfolgen. Dokumentarfilme von Palucca bis „Pina“ spiegeln den Probenalltag und die künstlerischen und menschlichen Beziehungen von Choreografen, Pädagogen, Tänzern und Tanzeleven.
Ganz leise erklingt eine Spieluhr mit Tschaikowskis Schwanensee-Motiv lockend im letzten Raum. „Billy Elliots“- Garderobe ist illuminiert; doch der Horror lauert unter zerbrochenen Spiegeln, sich drehende weiß-schwarze Tutus begleiten Natalie Portman als furiosen „Black Swan“ (USA 2011).
Was macht der Film mit dem Tanz und was macht der Tanz mit dem Film? – dieser zentralen Frage widmen sich Ausstellung, Begleitprogramm und die neue Buchpublikation mit Hingabe. Deren Autoren untersuchen u.a. „Die dramaturgische Funktion des Walzers im Spielfilm“ (Wolfgang Thiel), „Choreographien und Geschlechterordnungen im Tango-Tanzfilm“ (Peter W. Schulze), „Tanz und Affekt im Entgrenzungsfilm um die Jahrtausendwende“ (Senta Siewert), „Kleidung und Tanz im Film“ (Stella Donata Haag), „Tanz und Propaganda im deutschen Film der 1930er-Jahre“ (Evelyn Hampicke). Der Tanz im klassischen Hollywood-Musical der 1930er-Jahre (Ines Steiner) und der 1950er-Jahre (Nitya Koch) oder „Der Gigolo im Film“ (Annemone Ligensa) und „Kino der Attraktionen 1900/2000“ (Claudia Rosiny) werden ebenso fokussiert wie tänzerische Produktionsprozesse und neue Aspekte für das Verstehen von Tanz im Tanzdokumentarfilm.
„DER TANZ UND DAS KINO“ – Filmmuseum Potsdam
bis 22. April 2018, Die – So 10 – 18 Uhr
alle Infos www.filmmuseum-potsdam.de
Zur Ausstellung erschien im Schüren-Verlag Marburg
Ursula von Keitz und Philipp Staisny (Hg.): "Alles dreht sich und bewegt sich. Der Tanz und das Kino",
252 S., zahlreiche Abbildungen, 24,90 Euro
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