Klaus Geitel und Günter Pick im Gespräch
Klaus Geitel und Günter Pick im Gespräch

Ein Nachmittag voller Erinnerungen

Pick bloggt über sein Treffen mit dem Tanzkritiker Klaus Geitel

Klaus Geitel ist sicher einer der bekanntesten und wichtigsten Tanzkritiker der Nachkriegszeit. Günter Pick traf ihn zu einem Gespräch über Tanz und die Welt in Berlin.

Berlin, 16/01/2016

Im Dezember des gerade vergangenen Jahres hatte ich das Vergnügen Klaus Geitel in seiner Berliner Wohnung einen Besuch abstatten zu dürfen. Gemeinsam mit einem Filmteam, gefördert vom „Tanzfonds Erbe“, konnte ich mit diesem Zeitzeugen der Nachkriegszeit ein Gespräch führen. Klaus Geitel ist, soweit ich weiß, der letzte bedeutende Tanzkritiker dieser Zeit. Seit ich mich mit Tanz beschäftige, habe ich ihn immer bewundert als einen hochgebildeten und mit literarischem Stil ausgestatteten Feuilletonisten. Ein einzigartiges Talent im Bereich dieser Kunstgattung. Und ich schätze mich glücklich, dass er mich auswählte, dieses Gespräch mit ihm zu führen.

Nun liegt Geitels Interesse nicht schmalspurig beim Tanz, er ist vielmehr ein Allroundgenie, was mit der fundierten Bildung eines jungen Mannes aus gutem Hause nicht so erstaunlich ist. Schon in frühester Jugend hat er das Theater für sich entdeckt, schon vor dem Krieg, in den er (Jahrgang 1924) eingezogen wurde und an der Front miterleben musste. Sein Interesse am Ballett entwickelte sich aber erst im Laufe seiner späteren Studien in Paris. Ob er schon in der Zeit, als er mit den Eltern „Die Zauberflöte“ in der Berliner Staatoper sah, mal ein Ballett besucht hat, habe ich ihn leider nicht gefragt. Fest steht, dass er seine erste „Giselle“ als Student in der Pariser Oper gesehen hat. Eine Koinzidenz mit meinem Leben als Austauschschüler zur Verbesserung meiner schütteren Französischkenntnisse in Frankreich. Auch ich sah meine erste „Giselle“ in dem imperialen Opernhaus in Paris und ich möchte wetten, es war noch dieselbe Produktion von vor dem Krieg.

Wir waren uns einig, dass sie so verstaubt war, dass es selbst für einen Theatergänger wie mich im Alter von ca. 15 Jahren einer war, der nie dazu geführt hätte, den Tanz als Beruf zu entdecken. Dazu brauchte es die Begegnung mit Kurt Jooss und seinem „Grünem Tisch“. Bei den großartigen Tänzern waren wir uns ebenfalls einig, ich sah Peter van Dyk, den Klaus Geitel aus Berlin gut kannte und sehr schätzte, und Jaqueline Rayet in der Titelrolle. Soweit ich weiß, war er der einzige Deutsche, der jemals ein festes Engagement an der Pariser Oper hatte.

Zurück zu meinem Gespräch, das zunächst mit Klaus Geitels Begegnung mit Tatjana Gsovsky begann und sich dann über Mary Wigman, Harald Kreutzberg, Yvonne Georgi und Gert Reinholm, den ich auch sehr gut kannte, erstreckte. Aber auch die Großen der jüngeren Ballettgeschichte wie John Cranko, der bis heute das Ballett in Deutschland beeinflusst, ebenso wie die Gsovsky, waren unser Thema. Ich war überrascht wie distanziert Geitel zu Tatjana stand, bei aller Bewunderung für ihre künstlerische Kraft, ihre Theatralik und ihren Mut zu neuer Musik. Er hat viel von dieser „Grande Dame“ des Nachkriegsballetts über die Technik des Spitzentanzes und den klassisch/akademischen Tanz erfahren. Sowohl Geitel als auch Koegler waren zu Besuch im Studio von Tatjana. Geitel aber wollte sein technisches Wissen nicht auf die Gsovsky beschränkt sehen, denn er hatte sich ja auch schon in Paris umgeschaut.

Was Klaus Geitel am Theaterbesuch interessierte, und wovon er berichten wollte, waren die Menschen, die ihn begeistern konnten und das, was sie zu sagen hatten – egal, ob in Musik, im Tanzen oder in wortgewaltigen Texten – zum Leben erwecken konnten. Und es war ihm durchaus eine Spürnase gegeben. Als Tatjana ihren „Idioten“ (nach Dostojewski) mit Klaus Kinski besetzte, merkte Geitel sofort welche Kraft der damals unbekannte Pole neben seiner überbordenden Schauspieltechnik hatte. Kinsky brüllte Tag und Nacht zum Leidwesen seiner Vermieter Texte, aber man konnte ihn auch, wenn er flüsterte, noch auf der anderen Straßenseite hören. Ähnliches ist zu bemerken über die Naturgewalt eines Rudolf Nurejew. Der entwurzelte Exilrusse suchte in Geitel eine verständnisvolle Vaterfigur, und fand bei ihm etwas, das ihm bei aller Unsicherheit Halt geben konnte. Sie hatten sich bald nach Nurejews spektakulärem Asylantrag in letzter Minute vor dem Rückflug nach Moskau kennengelernt, und er blieb Klaus, wie er ihn nennen durfte, ein Freund bis zu seinem Tod.

Ich glaube, ich habe bis jetzt nichts vorweggenommen, was er in dem Film erinnern wird. Es war für mich wirklich aufregend. Die Atmosphäre, die dieses drei Stunden lange Gespräch, vollgestopft mit Erinnerungen, seiner Herkunft und seinen Freundschaften zu unzähligen großen, auch bildenden Künstlern, prägte, hat der Film festgehalten. Die Stimmung hat mich sehr an Max Niehaus erinnert, den Verfasser mehrerer Ballettbücher und des „Nymphenburger Ballettkalenders“, den ich nach dessen Tod noch einige Jahre betreute. Dieses Domizil eines ebenfalls hoch gebildeten Exil-Berliners in der Tengstrasse in München strahlte eine ähnliches Fluidum aus.

An dem Film arbeiteten keine seelenlosen Artisten ihres Metiers, sondern Menschen, die mit Verstand und Liebe zu ihrer Arbeit das Beste aus sich herausholen wollten, und das Ergebnis dem Freund Klaus Geitel widmeten. Eine Wohnung ist ja nun kein Studio und die Kameras, Licht und Ton wurden mit so viel Rücksicht wie möglich installiert. Alle Beteiligten, vorneweg Heide-Marie Härtel, die Erfinderin des oft unterschätzten Deutschen Tanzfilminstituts in Bremen, nahmen sich zurück bis zur Selbstverleugnung. So konnten wir sprechen, als ob es alle Tage bei ihm so zuging. Und tatsächlich deutete Rodney, Geitels Adoptivsohn und der gute Geist des Hauses, kurz vor dem Abschied an, dass bald wieder ein ähnlicher Besuch auf sie zukäme.

Es sollte aber noch Geitels Begegnung mit dem so früh verstorbenen Uwe Scholz, den er sehr schätzte, gedacht sein, und nicht zuletzt seiner uneingeschränkten Bewunderung, die er der Muse von John Cranko, der Weltballerina Marcia Haydée entgegenbrachte, die in unserem Gespräch vielleicht ein wenig zu kurz gekommen ist. Vor allem, dass sie den Geist des großen Choreografen und Direktors Cranko durch die Entdeckung des Schülers der Cranko-Schule Uwe weiter zu entwickeln vermochte, rechnete er ihr hoch an. Das Wunder von Stuttgart hat bis heute gehalten, mit Größen wie John Neumeier, William Forsythe und Jiri Kylian, um nur die Giganten zu nennen. Sie haben die jüngere Ballettgeschichte mit Wurzel in Stuttgart fortgeschrieben. Es bleibt zu hoffen, auch darin waren wir uns einig, dass eine große Tradition, die die Zeitgenossen nicht vernachlässigt, kein Wunder ist, wie Marcia Haydée und Reid Andersen in dem Vierteljahrhundert ihrer Arbeit bewiesen haben, es braucht lediglich Beharrlichkeit, künstlerisches Gespür und ein Quäntchen Genialität.

Kommentare

Noch keine Beiträge