Nietzsche für alle und keinen

SCORES No10 // Philosophy On Stage #4: "Artist Philosophers – Nietzsche et cetera" im Tanzquartier Wien

Vier Tage widmeten Arno Böhler und seine Kooperationspartner der Frage nach einer produktiven Verbindung der Künste mit der Philosophie.

Wien, 08/12/2015

Vier Tage widmeten Arno Böhler und seine Kooperationspartner des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) einem PEEK-Projekt (Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste). „Artist Philosophers“ beschäftigten sich hierbei mit dem Prinzen Vogelfrei der Philosophie. Mit dem Gedanken, eine unzeitgemäße Betrachtung der Dinge, ein ‚Vorspiel einer Philosophie der Zukunft‛ zu bereiten, wurde auf der Bühne versucht, der Frage nach einer produktiven Verbindung der Künste mit der Philosophie nachzugehen.

Hans Hoffer kreierte hierzu von 26.-29. November ein Raumsetting in der Halle G des Tanzquartieres, welches diesem Vorhaben die reflexive und partizipationsbetonte Spiel- und Tanzfläche bot: Durch ein Portal begaben sich die Teilnehmer wie Orpheus unter Tag, begleitet von den immanent atmosphärischen und stimulierenden Klangwelten der zwei ‚Hermes-Figuren‛ Franz Hautzinger und Wolfgang Mitterer. Anfänglich präsentierte sich die Halle derweil mit dem gewaltigen Gefälle einer Wand, an deren Balkonoberkante die ersten Ansprachen eher die Demonstration eines hierarchischen Bildungsdiktates als die Betonung einer teilhabenden Gedankenfläche hervorrief. Glücklicherweise löste sich diese anfängliche Problematik des Raumes im Laufe der vier Tage auf und die Möglichkeiten des allzweckhaften Open Space Settings mit Sitzwürfeln, Feldbetten (ein deplatzierter Aktualitätsbezug?) und der großen Grundfläche wurden intensiv genutzt. Maßgeblich beteiligt daran waren Künstler wie Barbara Kraus und Anna Mendelssohn, die mit dem komödiantischen Duktus von ‚So lach doch mal‛ des Herrn Nietzsche die Raumstatik mit ihren Bewegungen verwirrten. Zwar betonte ‚die Kraus‛ hierbei beinah plakativ die Körperlichkeit und das intuitive Moment wie sie in der Commedia dell‛arte vorherrschend sind, doch eine spezifischere Auseinandersetzung mit Nietzsche schien hinter dieser Unterhaltungs- und Zerstreuungskunst keinen Platz zu finden. Es war ein leichtlebiges Scheitern im Raum und ein Ritt auf dem I-A begeisterungsrufenden Esel. Anna Mendelssohn begann hingegen mit einer angreifenden, fatalistischen Haltung von Tod und Trauer, die sie im Untergangswahn, in der Bejahung des destruktiven Willens zur Macht mit einem publikumsintegrierten Alexis-Sorbas-Reigen abschloss.

Eröffnet wurde dieses Philosophy-On-Stage-Event von Dieter Mersch. Seine geradlinig universitäre Vortragshaltung konnte eine ästhetisch illustrative und intuitiv assoziative Komponente durch die im Hintergrund projizierten Zeichen- und Zersetzungstechniken von Nicolaus Gansterer gewinnen. Ebenso am Auftakt beteiligt waren Susanne Valerie Granzer und Arno Böhler mit einem Re-enactment: Kant auf der Couch. Granzer alias Lou Andreas-Salomé befragte hierbei Böhler alias Immanuel Kant nach seinem Verhältnis zu solch Nietzscheanischen Begriffen wie dem prä-freudschen Terminus des Es und des Begehrens. Es war schnell einzusehen, dass Kant in diesem Kabarettstückchen keinen Hohn aus seinem Unverständnis machen würde und selbst die up-to-date Kantversion, die Böhler dieser Figur verlieh, haderte beim Versuch einer Annäherung an neo-realistische Züge und stolperte sich einzig durch polemische Wegwerfbewegungen, deren Zweck die Belustigung zum Schaden Kants war. Überhaupt gab es innerhalb dieser Veranstaltungsreihe mehrere solch theatraler Reinkarnationsszenarien, denen das Publikum, so schien es, höchst entzückt gegenüberstand. So ließ sich eine Zuschauerin während der Gesprächsrunde „Butler, Kant, Nietzsche, Spinoza“ dazu hinreißen, den Nietzscheporträtisten lautstark zu ermahnen, er dürfe nicht in der dritten Person von Nietzsche sprechen: „Sie sind Herr Nietzsche!“ Re-staging war somit angesagt und auch Corinna Kirchhoff und Wolfgang Michael verhalfen dieser Betonung zu zweifacher Beachtung. Sie vertraten mit einer verteilten Rollenlesung von Nietzsches „Ecce Homo“ und Böhler/Granzers Textmontage nicht nur Nietzsche, sondern gleichsam die Einar-Schleef-Lesung am Thalia Theater von 2000. Nicholas Ofczarek vervollständigte schließlich das Bild dieses Theatralitätsnimbus‛ mit einem Max-Reinhardt-Seminar-Chor, bei dem man vergeblich nach einem chorischen Element à la Nietzsche suchte.

Sandra Noeths und Kamal Aljafaris‛ Lecture Performance war infolgedessen ein willkommener Formatwechsel und mehr noch eine erinnerungsvolle Referenz zu vorhergehenden SCORES Serien im Sinne von Arbeiten Tony Chakars, Basel Abbas‛ und Ruanne Abou-Rahmes. Die Filmausschnitte verlassener und menschenleerer Gassen von Städten wie Jaffa oder Beirut wurden dramaturgisch geschickt mit persönlichen Momentaufnahmen und poetischen Gedankenstiftungen verwoben. Die Intention steckte in einer Vergegenwärtigung des Abwesenden, die todvolle Lebendigkeit der Existenz sichtbar zu machen, in der das menschlich Individuelle sowie das Traumatische seine kollektive Situation zu erkennen vermag: The dead, where aren‛t they?

Andere tanzquartierübliche Formate waren den Performances von Daniel Aschwandens „Rettung des Zufalls“ und DANS.KIAs „bodies (with)in fences“ inne. Diese betont performativen Elemente der Veranstaltungsreihe schienen vom ‚Geist der Schwere‛ besessen zu sein. Übergang und Untergang traten bildreich hervor und ließen die 1000 Plateaus auf eine weitere Art in Erscheinung treten, denn dieser hatte sich später ebenfalls Rainer Totzke innerhalb seiner Trash- und Poetry-Slam-haften Nietzscheannäherung angenommen. Dieser skizzierte hierzu mit einem endlosen Repertoire an Nietzschereferenzen und –begrifflichkeiten eine Sozi-Jugend in der DDR und die erste Liebe unter dem Wandel der Philosophenlektüre.

Vortragskultur, wie sie bereits seit Jahren bei TED betrieben wird (der Innovations-Konferenz in Monterey, Kalifornien – vor allem bekannt durch die TED-Talks-Website, auf der die besten Vorträge als Videos kostenlos ins Netz gestellt werden), war den Rednern Martin Puchner und Graham und Helen Parkes verliehen. Vater und Tochter Parkes behandelten die Problematik des Hierseins in einer immer weiter zunehmenden Onlinekultur. So mischte sich fernöstliches Philosophengut mit der Kritik an binären Strukturen, bis sich Graham Parkes im Trancetanz verlor und damit wieder zum Körperbetonten zurückkehrte. Puchner hingegen blieb mit seinem „Socrates On Stage“ beim strikten Format des TED-Vortrages und ließ, trotz inhaltlicher Stärke, im Hintergrund etwas uninspiriert Guy Debords Film „La Société du Spectacle“ ablaufen.

Dekonstruktivistische Annäherungen an den Aphoristen Nietzsche unternahmen Alice Lagaay und das Theater der Versammlung/Jörg Holkenbrink sowie Peter Stamer und Frank Willens. Lagaay und Holkenbrink luden hierzu mit Schauspiel(er)-Versatzstücken dazu ein, durch Zwischenrufe und Systemkommandos neue Erzählungen mit dem vorhandenen Schauspielmaterial zu schaffen. Mit dieser absichtsvollen Absichtslosigkeit wiesen sie auf die intuitiven Sinnstiftungen des fragmentarischen Spiels hin, aber zugleich stießen sie zu jenem Moment des Zarathustra vor, in dem die unterhaltungslüsterne Kraft des Narren den Tod des Seiltänzers bedeutet. Stamer und Willens beschränkten sich bei ihrer Performance auf ein Zersetzen der Welt in Worten. Es schien bei Zeiten Dostojewskis „Traum eines lächerlichen Menschen“ anzuklingen. Dies jedoch mit dem wohl am besten gelungenen Bühnenaufbau aller vier Tage: Ein Holzbrettwürfel, den Willens sportlich während seiner Rede erkletterte und schließlich, auf dessen Höhe stehend, unter sich zusammenfallen ließ. Das Sinnbild der Latten, auf denen man sich selbst zu übersteigen hat, fand folglich seine epistemologische Kritik.

Die musikalische Teilhabe an dieser Veranstaltungsreihe wurde, wie zuvor schon erwähnt, prominent durch Franz Hautzinger und Wolfgang Mitterer vertreten. Mit ihren Fähigkeiten der Klangerzeugung schafften sie Räume der Darstellung, die den meisten KünstlerInnen verwehrt blieben. Ergänzt wurden diese beiden jedoch von Paulo de Assis virtuosem Klavierspiel (v.a. Beethoven) und Karlheinz Essls und Agnes Hegingers Wagner-Sampling. Ersterer beteiligte sich dabei mitsamt dem Performancekollektiv ME21. Unter dem melancholischen Motiv des „So lach doch mal“ von Nietzsches kompositionellem Werk, erwähnten sie den gemeinhin begangenen Verriss seiner musikalischen Ergüsse, ließen aber durch Martin Schwab einen Einblick in seine epistemologischen Einsichten zu. Die Chaplingroteske von Marlene Freitas hing dabei als tragische Ironisierung des Nietzscheanischen Musikerschicksals jedoch etwas durch. Essl und Hegingers Wagner-Sampling war leider ebenfalls von keinem Musenkuss beglückt. Wie bei Nietzsches Kompositionswerk stieg die Frage nach dem Mehrwert auf.

Abseits der Präsentationsplattformen gab es bei diesem Philosophy On Stage-Zyklus zusätzlich den offenen Austausch von Publikum und KünstlerInnen. Eine Diskussionsecke wurde nach jedem Veranstaltungsblock in der Halle eingeläutet und während der Morgenlektüren in den Studios des TQWs gab es ebenfalls Raum für Rückmeldungen. Besonders erwähnenswert waren hierbei die durch Elisabeth Schäfer moderierten Runden. Sie und ihre KollegInnen von Sublin/mes brachten nicht nur prägnante inhaltliche Auseinandersetzungen der generellen Nietzscherezeption zur Sprache, sondern öffneten den Diskursraum für Kritik an der eigenen Veranstaltung. So kam die Frage nach einem Nietzschekult auf, die für manchen Besucher im Angesicht des anfänglichen Raumaufbaues in der Halle – die Eintrittspforte mit ihrem Nietzscheanischen Geleitsatz und die anfänglich überdimensionierte Balkonansprache – eine rituelle Stätte, einen Bildungstempel, und Arno Böhler als Hohepriester in Szene zu setzen vermochte (gleichermaßen sei hier auf die viertägig andauernde Kopie der Nietzscheanischen Handschrift durch Manora Auersperg verwiesen).

Zum Abschluss kann gesagt sein: Jener eingelesene Nietzschekenner, welcher also bis auf wenige Ausnahmen von einer tiefschürfenden Lektüre- und Werkauseinandersetzung absah, konnte sich umso mehr auf eine lustvolle und körperbetonte Performanz Nietzsches einlassen. Dies bezeugen vor allem die rege Partizipationsbegeisterung und der gehaltvolle Applaus nach den Performances. Die Frage nach den Darstellungsweisen ‚eines Vorspiels für eine Philosophie der Zukunft‛ wurde jedoch von keiner der Performances beantwortet. Dafür blieben sie alle, zwar im Gesamtbild reich an Varianz, zu sehr in zeitgemäßen und teils antiquierten Präsentationsformen verhaftet. Es war folglich mehr ein Nietzscheerlebnis für alle und keinen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern