TANZerfahrung und WELTerkenntnis

Neuerscheinung: 22. Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung

Das Cover leuchtet gelb. Das 22. Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung (GTF) spiegelt in seinen 23 klug konzipierten und bestens lesbaren Aufsätzen, Vorträgen und Essays die vielfältigsten Zusammenhänge von Tanzerfahrung, Selbst- und Welterkenntnis für die Ausprägung der menschlichen Identität und des sozialen Miteinanders. Diese interdisziplinären Forschungsergebnisse wurden auf dem Kölner Symposium anlässlich des 25jährigen Bestehens der GTF im Oktober 2011 referiert und diskutiert. Aus sechs Perspektiven untersuchen die Autoren, wie der tanzende Mensch, wie der Körper „gewissermaßen per se als Mittler zwischen Ich“ und „Welt“ in Erscheinung und Wechselwirkung (tritt), gleichgültig, ob aus tanzkünstlerischem Blickwinkel, in alltagskulturellen Bezügen oder in pädagogischen oder therapeutischen Zusammenhängen“. Die Lektüre macht erlebbar, wie die menschliche Identität und Welt(er)kenntnis durch Tanz befördert werden. Die Referentinnen und Referenten haben klar erkennbar ein starkes Bedürfnis, sich aus anthropologischer und ästhetischer, sozialer und kultureller, historiografischer und pädagogischer Perspektive mit der Interaktion von Tanz- und Lebenswelten engagiert, polemisch, (selbst)kritisch und (er)kenntnisreich auseinanderzusetzen.

Jeder Beitrag bietet eine Fülle an Denkansätzen in Bewegung (aus Platzgründen seien hier nur einige beispielhaft hervorgehoben). Gabriele Klein betrachtet eingangs soziale Choreografien des Alltags und argumentiert für „Tanz als ein Kernfeld des Politischen“. Allen zeitgenössischen Tanzschöpfern empfehle ich die analytisch kritische Argumentation „Overt and Covert Politics in Contemporary Choreography“ von Alexandra Kolb. Die Autorin untersucht und befragt (endlich!) den status quo der zeitgenössischen Choreografie und deren überwiegende Ignoranz gegenüber den fundamental veränderten politischen Parametern zwischen den sechziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts und dem begonnenen 21. Jahrhundert der „modern (Western) societies“. Um Paradigmenwechsel geht es Ralph Fischer auch in „Dancing Gravity“, wo der Autor die Utopie des Antigraven historisch in Bezug auf den Tanz mit der Schwerkraft als Dialoge mit der Welt fasst. Durch ihre Platzierung im Band treten dazu Josephine Fengers Exkurs zum anarchischen Potenzial im Romantischen Ballett und die performative Befragung der Mechanismen heutigen Wahnsinns sowie Mariama Diagnes „Streifzug durch die Tanzgeschichte mit Blick auf die Darstellung von Untoten“ in Dialog.

„Zum Vermittlungsverständnis einer intermedialen Tanzpraxis“ gibt Anna-Carolin Weber anschaulich selbstkritische und auf Leerstellen in der Ausbildung verweisende Argumente. Sie befragt praxisgestützt, welcher „Medienbegriff explizit und implizit im herrschenden Diskurs der Tanzwissenschaft“ produziert wird. Als Ergebnis der theoretischen Reflexionen und praktischen Projektarbeit sieht sie deutliche Defizite. In Bezug auf die Lesbarkeit hybider Tanz-Medien-Formationen müssten Studierende auf der Rezeptions- wie Produktionsebene diskursiv lernen, „dass Medien wie auch Bewegungen durch bestimmte Techniken Wirklichkeit produzieren. Weltwahrnehmung und Weltkonstruktion müssen in der Analyse und Praxis von Tanz-Medien-Dispositiven immer zusammengedacht werden“. Das und wie dramaturgische Unkenntnis und fehlende Kommunikation zwischen Performern und Zuschauern misslingen können, zeigen Gesa Friedrichs-Büttner, Johanna Dangel und Rainer Malaka in ihrem Forschungsbericht zur interaktiven Performance „Parcival XX-XI (Kooperation der Freiburger Tanzcompany urbanReflects und des Technologiezentrums der Universität Bremen).

„Lust und Verlust. Tanzarchiverfahrung und Welterkenntnis“ treiben Frank-Manuel Peter zu einem engagierten Essay über „Verlust an Seriosität, Ausgewogenheit und Objektivität“ in demokratischen Cyberwelten (erweitert durch Exkurse zur befürchteten Allmacht der Maschine in der Kunst). Seine kritischen Fragestellungen zielen auf den permanenten Verlust an Tanzwissen und befragen nachdrücklich den defizitären historischen Praxisbezug in der Entwicklung der deutschsprachigen Tanzwissenschaft. In „Methodische Überlegungen zum Erforschen ‚fremder‘ Tanzwelten“ legt Taiya Mikisch einige Leerstellen bloß und favorisiert die Methode der teilnehmenden Beobachtung zur Erfassung des Tacit knowledge in tanzkünstlerischen Produktionsprozessen. Petra Jansen beleuchtet in ihren empirischen Studien mit Erwachsenen und Kindern den Einfluss des Tanzes auf die kognitiven Fähigkeiten.

Wertvolle Erkenntnisse gewinnen Tanzlehrende durch „Empirische Studien zum Aspekt der Selbstwerterhaltung beim Tanzen und Gestalten“ von Claudia Behrens. Auch Max Fuchs postuliert die Weltwahrnehmung und Selbstwahrnehmung durch die Künste, diskutiert die heterogene Realität kultureller Bildung in Deutschland mit Gegenwind und mit Rückenwind und argumentiert „für einen ganzheitlichen Bildungsbegriff, der die technokratische Verkürzung von Bildung in der derzeitigen Schul- und Hochschulpolitik zu kritisieren gestattet“. Martin Stern diskutiert Möglichkeiten wie Grenzen „von Selbsterkenntnis auf der Grundlage von Körper- und Bewegungserfahrungen“.

Ihre ambivalenten persönlich-leiblichen Erfahrungen beschreibt Claudia Fleischle Braun in ihrem offenherzigen Bericht zum Anfängerkurs im indischen Tanzstil Bharata Natyam und betont, dass „ die Anerkennung der kulturellen Diversität mit ihren jeweils verschiedenartigen Erfahrungswelten und ‚Lesarten‘ der Welt in Einklang gebracht werden muss“. Ronit Land rückt „Das Wahrnehmen“ ins Zentrum und ermutigt zu einer „Stärkung der körperlichen Intelligenz als Ressource für eine soma-ästhetische Reflexion in dem Geflecht von Mensch, Gesellschaft und Natur“. Marianne Bäcker lädt zum „Dialog von Tanz und Raum“, der Studierenden aus verschiedenen Blickwinkeln Hintergründe erfahrbar macht, die durch Zuhören, Respektieren, Suspendieren und Artikulieren als veränderte Erfahrungs- und Reflexionsräume geschaffen werden. Dem „kulturell entstandenen Bewegungsvakuum“ und dem empirisch mittlerweile bestätigten Konzept der negativen Erziehung an deutschen Schulen setzen Krystyna Obermaier und Michael Obermaier ihr Konzept von Tanz „als 3. Fach für Lehramtsstudierende breitflächig an den Hochschulen anzubieten“ entgegen, um die Ausbildungslandschaft für Tanzvermittler im Laien-Bereich qualitativ nachhaltig zu stärken.
Dieses 22. Jahrbuch ist keine Lektüre für „Insider“, sondern eine vielgestaltige Einladung an Tanzlehrende, Tanzpraktiker und Tanzforscher unterschiedlichste Tanzfragen als Lebensfragen der menschlichen Existenz zu diskutieren.

Claudia Behrens/Helga Burghard/Claudia Fleischle Braun/ Krystyna Obermaier (Hg.): TANZerfahrung und WELTerkenntnis. Tanzforschung 2012. 304 Seiten, 20 s/w-Abbildungen

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