Unerlässliche Beweglichkeit der Ideen

Neuerscheinung der Gesellschaft für Tanzforschung: „Tanzforschung & Tanzausbildung“

Berlin, 13/10/2008

Tanz ist vor allem innerhalb der letzten zehn Jahre auch wissenschaftlich viel in Bewegung geraten. Anlässlich des 20jährigen Bestehens der Gesellschaft für Tanzforschung (am 31. Mai 1986 von 37 Entschlossenen in Köln als gemeinnütziger Verein ins Leben gerufen) fand das Symposium „Tanzforschung & Tanzausbildung“ an der Staatlichen Ballettschule Berlin statt, dessen Dokumentation mit diesem Kompendium vorliegt. 65 Referenten und 150 Teilnehmer beteiligten sich kenntnis- und ideenreich an dieser kritischen Analyse und Reflexion des aktuellen Standes von Forschung und Lehre. Vorliegendes Arbeitsbuch publiziert 36 erkenntnis- und problemorientierte Beiträge der Berliner Tagung, die multidisziplinär 7 Themenkomplexen zugeordnet wurden. Tanzwissenschaft heute wird in der Heterogenität der unterschiedlichsten Forschungsansätze und Diskurse als „interdisziplinäre Integrationswissenschaft“ (Claudia Fleischle-Braun) charakterisiert.

So sind es vor allem die breit gefächerten Fragestellungen, die zum Mit- und Nachdenken einladen: „Bildet die Kunst Welt nur ab, bedeutet sie nur Welt oder stellt sie sie her?“, fragt Gerald Siegmund in seinem Exkurs „Zur Theatralität des Tanzes“. „Wieso sollen die Zuschauer einer Tanzaufführung vor dem Stück oder danach in die „Schule gehen und >lernen<, wie man Tanz wahrnimmt? (...) Muss man Unterhaltung >lernen<?“, fragt Maren Witte. „Was leistet der Spiegel tatsächlich? Ist er lernunterstützend oder lernhemmend?“, untersucht Sonja Böhme.

In seiner problemorientierten und unbedingt überdenkenswerten Betrachtung von drei Konzepten der Tanzwissenschaft (DDR, Großbritannien und USA) beschreibt Jens Richard Giersdorf die Haltung der Tanzwissenschaft gegenüber ihrem Untersuchungsobjekt. Seine Neu-Befragung der verschiedenen Richtungen beleuchtet dabei den Verlust erkenntnistheoretischer Annäherungsweisen sowie die „kolonialisierende Wirkung einiger Tanzwissenschaftsmodelle“ (S.52). Christine Mons-Spinner referiert ebenfalls kritisch Ausbildung und Forschung zum „Tanz in Frankreich“ (S. 51) und stellt brisante Fragen. „Wie sehen wir heute den Stellenwert und die Bedeutung der Avantgardebewegungen in den USA an?

Was ist mit der Entwicklung des ‚nicht-erzählenden‘ oder ‚postmodernen‘ Tanzes – unpassend ausgedrückt – der abstrakten Tanzstile? Welches sind die entscheidenden Hintergründe, die dazu geführt haben, dass ohne ein Bedürfnis nach einer Identität getanzt wurde (?)“, fragt die Autorin mit Bezug auf die fundamentale Bedeutung von anderen ‚Missverständnissen‘, die so lange gepflegt wurden. Sie plädiert für eine Relativierung der Gelehrsamkeit „zugunsten der Wissenszirkulation unter den vielfältigen Gruppierungen des Publikums.

Für den Forscher heißt Theorie und Praxis überdenken vielleicht, auf die Transzendenz einer missionarischen wissenschaftlichen Rede zu verzichten, um eine kritische, epistemologische Distanz in Betracht zu ziehen“ (S 61). „Was aber ist wissenschaftlich“ (S. 64) fragt Angela Rannow mit Blick auf den „inflationären Gebrauch des Wortes“ Tanzwissenschaft und erörtert ihr Konzept von konzipierter und praktizierter Tanzwissenschaft.

Auch Gabriele Klein stellt in ihrem Exkurs „Inventur der Tanzmoderne“ brisante Defizite in der Tanzforschung fest, die den hybriden Charakter der Tanz-Kulturen in einer globalisierten Welt nicht erfassen. „Die europäische Tanzgeschichte der Moderne wird als eine Geschichte des Westens, also als eine Geschichte einer weißen bürgerlichen Kultur der Avantgardebewegungen vorgestellt. (...) Tanzgeschichte wird aus dieser Perspektive als Personen- und nicht als Strukturgeschichte vorgestellt“ (S. 76). Eine globalisierte Tanzgeschichte sollte (endlich) den „sozialen Tatsachen“ entsprechen und die tanzkünstlerische Produktion komplex in ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen betrachten.

Um die Vermeidung einer rein ästhetischen Perspektive bei der Tanzbetrachtung geht es ebenfalls Melanie Haller, die in ihrem Beitrag „(Paar-)Tanz als nonverbale Kommunikation“ (S. 132) mit Bezug auf den Tango Argentino alle Bewegungen als kommunikativen Akt untersucht. Margrit Bischof unterbreitet Vorschläge für die „Konzeptualisierte Betrachtung eines Tanzgeschehens“ (S. 153).

Neben dem Arbeitskreisbericht von Claudia Fleischle-Braun/Antje Klinge zur „Evaluierung von Tanz-Projekten im Bildungsbereich“ (S. 192) widmen sich mehrere Beiträge aktuellen Entwicklungen der Tanzerziehung und Tanzvermittlung. Marianne Bäcker wirbt für eine Tanzdidaktik als Lehrkunst“ (S. 161). Sabine Huschka anerkennt die positive Verbindung von Tanz/Kunst und Bildung und unterstreicht andererseits: „Aus pädagogischer Perspektive sollte den Vereinfachungen, Verkürzungen und Ausblendungen existierender Projekte und ihrer populären Annahmen, mit Tanz an der Schule ließe sich leichter, besser und effektiver lernen, kritisch das Wort geredet werden“ (S. 182).

Mit ihrem „Einblick in die Arbeit von Anna Halpin“ folgt Ronit Land der Frage „Wie kommuniziert man miteinander und wie nimmt man einen Dialog wahr, wenn man nicht eine allgemein vereinbarte Sprache benutzt, sondern individuelle Bewegungssymbole und Körperzeichen verwendet“ (S. 189)? Susanne Quinten stellt die Ressourcen der Tanztherapie zur Gesundheitsförderung, Prävention und Therapie dar und beklagt deren völlig unzureichende gegenwärtige strukturelle Verankerung im deutschen Gesundheitssystem. Eine weitere Facette „Tanz-Körper und Gesundheit“ beleuchtet die Sportmedizinerin Eileen M. Wanke. „Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, dass das tägliche Training den Körper kardiopulmonal nur unzureichend auf nachfolgende Belastungen in Proben und Vorstellungen vorbereitet“ (S. 221). Sie sieht in der Bereitschaft zu einer möglicherweise vollständigen Aufgabe alter Strukturen eine große Herausforderung im Tanz. Maren Witte unterbreitet erste Ergebnisse des Projektes zur Verbindung von Theorie und Praxis „Mein Projekt der >Publikumsschule< will historische, politische und interdisziplinäre Bezüge herstellen“ (S. 230), um so einem fachfremden oder nicht-professionellen Publikum den Zugang zu erleichtern. Auch Yvonne Hardt geht es in ihren Ausführungen „Denkende Praxis, bewegende Wissenschaft“ um keine rein motorische Bewegungsanalyse, sondern um „eine soziale und ästhetische Kontextualisierung“ (S. 240).

Detailliert beschreibt Thom Hecht „Chancen und Grenzen der Validierung von Hochschulabschlüssen an Tanzkonservatorien in Großbritannien“ (S. 277). Dem Prozess der Umstrukturierung in eine gestufte Studienstruktur mit Bachelor- und Masterstudiengängen in Deutschland widmet sich auch Claudia Feest im Bericht des Arbeitskreises „Neue Tendenzen der professionellen Tanzausbildung“, der in der Präsentation der einzelnen Ausbildungsinstitute eine deutliche Profilschärfung konstatiert. Dieser komplizierte Reformprozess sollte durch offene Diskussion der Defizite und Probleme, bei aller Vielfalt eines klar gegliederten bundesweiten Ausbildungsangebotes, das Studium im Tanz für alle Bewerber weiter optimieren.

Der Bericht des Arbeitskreises „Neue Studiengänge und –konzepte mit dem Schwerpunkt Tanzpädagogik/Tanzvermittlung“ (S. 299) stellt die unterschiedlichen Formate der Aus- und Weiterbildung in Bochum, München, Berlin, Köln, Bern und Frankfurt a. M. dar. Im Bericht des Arbeitskreises „Tanzpädagogik im freizeitkulturellen Kontext“ (S. 311) plädiert Claudia Fleischle-Braun für die Einrichtung „runder Tische“, um gerade seitens der GTF „vermehrt den Kontakt mit anderen Tanzorganisationen aufzunehmen und über die Hochschulen hinaus das Gespräch mit den Kollegen und Kolleginnen aus dem Bereich der privaten Berufsfachschulen sowie Akademien zu suchen“ (S.317). In ihrer Praxisnähe sehr anregend sind die engagierten Berichte zum „Tanzen und kreativen Bewegen im vor-, außer- und schulischen Kontext mit heterogenen Zielgruppen“ (Maria Dinold) bzw. „Das Projekt Freie Schule Brigach“ von Cornelia Widmer und das „Pilotprojekt Tanz am Musischen Gymnasium Salzburg“ (Astrid Weger).

„Tanzforschung & Tanzausbildung“ ist eine inhaltsreiche, sorgfältig lektorierte Symposiumsdokumentation mit umfangreichen Literaturverweisen, aktuellen Anmerkungen und Internetquellen Die Gesellschaft für Tanzforschung (GFT) stellt sich mit dieser Jubiläums-Lektüre als Kompetenzzentrum dar, das auf 356 Seiten vielgestaltige Anregungen für intellektuelle und praktische Bewegungen in Sachen Tanz unterbreitet. Unbedingt empfehlens- und lesenswert.

Fleischle-Braun, Claudia/ Stabel, Ralf (Hrsg.): Tanzforschung & Tanzausbildung Dokumentation des „Symposiums der Gesellschaft für Tanzforschung (GTF) an der Staatlichen Ballettschule Berlin“ (4.-7. Oktober 2007) - 36 Beiträge wurden sieben zentralen Themenkomplexen zugeordnet: Tanzwissenschaft(en) im Wandel/ Tanzgeschichte(n) schreiben und überdenken/ Kontexte und interaktive Wechselwirkungen im Tanz/ Tanzerziehung und Tanzvermittlung/ Tanztherapie und Tanzmedizin/ Tanz-Wissen in Aus- und Weiterbildung/ Tanz-Praxis - reflektiert und präsentiert.
367 Seiten, 30 Abb., 4 Tab., (F 21x13,5), Henschel Verlag, 2008, - kt. EUR 19,90
 ISBN978-3-89487-629-6

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