Matteo Crockard-Villa, Tomas Danhel und Özkan Ayik in „Mötar“ von Sebastian Schwab

Matteo Crockard-Villa, Tomas Danhel und Özkan Ayik in „Mötar“ von Sebastian Schwab

Stinkefinger fürs Ballett

Der diesjährige Noverre-Abend

Stuttgart, 15/07/2011

Wegen der Renovierung des Schauspielhauses sind die „Jungen Choreografen“ mit ihrem Noverre-Abend dieses Jahr ins noch intimere Wilhelma-Theater am berühmten Zoo der Landeshauptstadt umgezogen. Dort gab es wie immer Interessantes und Mittelprächtiges zu sehen, zur Belohnung für manche Belanglosigkeit aber auch eine trockene Pointe. Die steuert Sebastian Schwab bei, tanzaffiner Staatsschauspieler und auch schon in Marco Goeckes „Orlando“ zugange, der hier in „Mötar“ fünf Herren in allzu farbigen Trikots so lieblich umeinander ranken lässt, dass nicht gleich alle Zuschauer den parodistischen Faktor realisieren – bis dann laute Buhs ertönen, die fünf Jungs ihrer ballettösen Lyrik den Stinkefinger zeigen, auf Luftgitarren loslegen und das arme Kleinod Wilhelmatheater in seinen Grundfesten rocken. Ein alberner, aber sehr lustiger Gag, ein wenig im Stil von Christian Breys Ausdruckstanz-Einlagen in der Harald-Schmidt-Show; interessant auch, wenn man so darüber nachdenkt, wie das klassische Ballett in einer anderen Sparte des Staatstheaters wahrgenommen wird.

Prompt fühlte sich die Tanzkunst bemüßigt, das Klischee gepflegter Langeweile zu demonstrieren – so wollte sich Brent Parolins Pas de deux „Absolute“ absolut nicht von der Klassik zur Neoklassik bewegen. Schwungvoller und musikalischer ging es in Mikhail Solovievs „The expected Suddenness“ zu, aber auch er fand keinen einzigen neuen Schritt. David Moores Trio „Love your ground“ liefert einen guten Grund, die Verwendung belangloser New-Age-Musik für junge Choreografen unter Strafe zu stellen.

Auch Popmusik ist eigentlich kritisch, aber nicht wenn sie so schön ausgewählt wird: Evan McKie nutzt eine melancholische Ballade von Antony and the Johnsons für ein stilles, eng umschlungenes Duo, das Alessandra Tognoloni und Alexander Jones zärtlich ins Halbdunkel hauchen. Auch Flavio Salamanka, mit seinen drei Tänzern zu Gast vom Karlsruher Ballett, lässt sich von einem Pop-Folk-Duo aus dem Film „Frida Kahlo“ zu fließender Eleganz und dunklem Charme inspirieren. Er choreografiert in weiten, freien Bewegungen und mit verspielten Verzierungen der Hände, erinnert zuweilen an die spanisch getönten Renaissance-Ballette Nacho Duatos. Wie schade, dass mit Marcos Meñha und dem faszinierenden Diego de Paula zwei seiner besten Kollegen die Karlsruher Kompanie verlassen. Miles Pertl, derzeit noch Eleve in Stuttgart und nächstes Jahr im Corps de ballet, schuf zur Reibeisenstimme von Tom Waits ein müdes, lässiges Tanztheater in Pina-Bausch-Szenerie. Wiederum fiel Robert Robinson durch seine Intensität und herbe Ausdruckskraft auf, der Absolvent der Cranko-Schule wird nächstes Jahr Eleve.

Bleiben die beiden Helden, die sich tapfer klassische Musik erwählten und damit auf jeden Fall gewannen: Halbsolistin Katarzyna Kozielska debütiert zu Vivaldi- und Bach-Sätzen und führt in ihrem Stück „Der richtige Ort“ die Neoklassik ad absurdum. Wohl sind hier Christian Spucks puppenhafte Ästhetik und Demis Volpis tackernde Spitzenschuhe zu erahnen, aber die polnische Choreografin hat durchaus eigene Ideen, eigene ungewöhnliche Bilder im Kopf, das käferartige Krabbeln der Damen zum Beispiel, die immer wieder grotesk gebrochenen Linien.

Auch der Münchner Louis Stiens kommt nächstes Jahr als Eleve von der Cranko-Schule in die Kompanie und zeigt mit dem relativ langen „Jesus Home“, dass er neben einer sehr dunklen Fantasie auch über ein erstaunlich großes Bewegungsrepertoire verfügt. Zu Streichermusik von Schostakowitsch geschieht Düsteres, ein Mord gar, dann schmalzt die Musik plötzlich „I’m Mister Lonely“, als eine Holzfigur des Gekreuzigten nach vorne getragen wird. Das soll schockieren, aber genau so hat Marco Goecke, eindeutig das Vorbild des jungen Choreografen, dereinst auch bei den Noverre-Abenden angefangen. Sehr eindrucksvoll, zu welcher Ausdruckskraft der grade 20-jährige Stiens seine jungen Kollegen inspirieren kann (darunter die auch im Modernen großartige Elisa Badenes) – da hat jemand etwas zu sagen und muss nur eine deutlichere Form, zwingendere Strukturen dafür finden.

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