Bewegender Hymnus auf eine ungestillte Liebe

John Neumeiers „Kleine Meerjungfrau” vom San Francisco Ballet auf DVD

Berlin, 11/11/2011

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Bereits 1994 hatte John Neumeier für sein Hamburg Ballett eine Version der „Undine” geschaffen, die auch von anderen Ensembles übernommen wurde. Als er 2005, gut ein Jahrzehnt später, den Auftrag erhielt, zum 200. Geburtstag von Hans Christian Andersen ein Werk für das Königlich Dänische Ballett zu kreieren, trafen wohl zwei verwandte Seelen aufeinander: der Dichter in seiner lebenslangen Schwermut und der arrivierte Choreograf mit Faible für zerrissene Charaktere. Und wieder, wie bereits in „Illusionen – wie Schwanensee”, hatte Neumeier die zündende Idee für sein Ballett: Wie damals Ludwig II. ließ er in der „Kleinen Meerjungfrau” Andersen auftreten, machte ihn zum spiritus rector, dem das Geschehen mehr und mehr entgleitet, weil es seine Eigendynamik gewinnt. So gab er dem Stoff einen authentischen Rahmen, der Andersens Empfinden spiegelt, als ein ihm vertrauter Freund heiratete und damit Andersens Hoffnung auf Nähe zu ihm zunichte machte. Die Figur der unglücklich liebenden Meerjungfrau wird Projektionsfläche für die Gefühle des Dichters.

2007 überarbeitete Neumeier seine Kopenhagener Version fürs Hamburg Ballett, und auch Lera Auerbach nahm Änderungen an ihrer Originalkomposition vor. In dieser Fassung studierte Neumeier „Die kleine Meerjungfrau” 2010 als „The Little Mermaid” mit dem San Francisco Ballet ein, 2011 dann mit dem Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater in Moskau. Im Frühjahr 2011 entstand in San Francisco eine Aufzeichnung des Balletts, die C Major Entertainment jetzt vorlegt.

Dass Neumeier außer der Choreografie auch Bühnenbild, Kostüme und Licht entworfen hat, macht sein Werk ebenso einheitlich wie dessen Verschmelzung mit Auerbachs kongenialer Musik, die man zu den wenigen großen Schöpfungen für den Tanz rechnen darf. Aus einem Guss klingt sie, hat sinfonischen Zuschnitt, erreicht Qualität und Dichte etwa Schostakowitsch’scher Werke, zeichnet Atmosphäre, wie der Choreograf sie sich nur wünschen konnte. Im Theremin, einem elektronischen Instrument, fand Auerbach die flirrende musikalische „Stimme” für die Titelfigur in ihrem wässrigen Zauberreich. Dass auch die Choreografie ganz auf Tanz vertraut, mit ihm unvergleichlich berührende Stimmungen „malt”, erhebt „Die kleine Meerjungfrau” zu einer Kreation von sicher langer Lebensdauer: weil sie kein Märchen erzählt, sondern auf poetisch überhöhte Weise reale Emotionen enttäuschter Liebe einfängt, wie jeder sie selbst erlebt hat.

Der fröhlichen Wasserwelt, in der die Geschöpfe wirklich zu schwimmen scheinen, stellt Neumeier die kältere Menschensphäre gegenüber, in der wenig Raum für die Natur bleibt, wie sie die Meerjungfrau und ihre Muschel darstellen. Selbst der sensible Prinz erkennt nicht die tiefe Liebe des ungewöhnlichen Wesens, hält für Spiel, was dem Mädchen Ernst ist. Immer wieder schafft Neumeier atemberaubend dichte Duette, die bald zu Trios mit dem Dichter werden, bald zu Quartetten, als die Braut des Prinzen hinzutritt. Manche Szenen erscheinen surreal wie Bilder von Edward Hopper. Am starken Eindruck der Aufführung aus San Francisco haben, neben Martin Wests so plastischem Dirigat, wesentlichen Anteil die Solisten. Yuan Yuan Tan als Meerjungfrau ist bereits in ihrer asiatischen Herkunft Außenseiterin, gestaltet die Rolle des heimatlos unter Menschen lebenden Mädchens mit kaum zu überbietender Hingabe, greift im Gestus oft auf asiatisches Theater zurück. Lloyd Riggins als Dichter, der jene Figur als Ventil eigenen Wehs kreiert hat, weicht ihr kaum je von der Seite, durchleidet ihre Qual. Vom Romeo seiner Jugend hat er sich etwa über den Aschenbach zu einem hochempfindsamen Charaktertänzer entwickelt. Unbeschwert und blond ist der Prinz des Tiit Helimets, eine Lichtgestalt von tänzerischer Noblesse, dem die Meerjungfrau nicht mehr als ein sonderbares Spielzeug bedeutet. Sarah Van Patten, resolut und diesseitig, ist ganz geliebte Braut, dämonisch obwaltet Davit Karapetyan als Meerhexer.

Auch eine feinfühlige Schnitttechnik lässt am Erlebnis Aufführung teilhaben, das die Aufzeichnung nun konserviert.

John Neumeier: „The Little Mermaid”, Ballett in zwei Teilen, San Francisco Ballet 2011, C Major Entertainment, 130 Min., 35 Min. Bonus-Material, 2 DVD DVD bei Amazon bestellen!

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