Gedanken zur Rezeption des zeitgenössischen Tanzes

Eine Nachbetrachtung zu „Tanz! Heilbronn“

Heilbronn, 03/06/2011

„Interkultureller Austausch beginnt mit Missverständnissen“ – dieser Satz des japanischen Butoh-Tänzers und Choreografen Isamu Osuga (Byakko-Sha, Kyoto) steht leitmotivisch über „Tanz! Heilbronn“. Welcher Art sind sie und wohin führen diese Missverständnisse? Die Kuratorin Karin Kirchhoff hat beim dritten Tanzfestival unter der Intendanz von Axel Vornam wunderbare Tanzstücke eingeladen. Auf Seiten der Tanzschaffenden haben die Aufführungen vor allem eins offen gelegt: das kreative Potenzial im interkulturellen Austausch scheint für Tänzerinnen und Tänzer, für Choreografinnen und Choreografen schier unerschöpflich. Es reicht von relativer Beliebigkeit des in Frankreich beheimateten Choreografenpaares Héla Fattoumi und Eric Lamoureux, die mit „Just to Dance...” das Festival eröffnen, bis zum hierarchisch gegliederten Männer-Ensemble Sankai Juku, mit deren Stück „Tobari – Wie im unendlichen Fluss der Energie“ die Tanztage ausklingen.

„Just to Dance...” verspricht im Programmhefttext „eine Symphonie des Andersseins“, das durch die multikulturelle Kollaboration der neun Tänzer von drei Kontinenten entstehe. In Soli, Duetten und Trios werden reihum nationale Tanzformen und Bewegungsmuster sowie Klischees der Unterhaltungsindustrie aufs Korn genommen. „My name is Hattori, Tetsuro Hattori“, mit Stirnbinde samt nationalem Emblem, Hosenrock und Geta (japanischen Holzsandalen) bekleidet, fuchtelt die Karikatur eines wild gewordenen Japaners mit dem Schwert herum und feuert die Mittänzer an, aus einem überdimensionalen Papierquadrat eine Origami-Figur zu falten. Eine witzige Sequenz, die paradigmatisch für interkulturelle Verständnisschwierigkeiten ist. Das ganze Tanztheater, nebenbei ein nettes Ablenkungsmanöver der mittelprächtigen Tanztechnik, kulminiert im Stillstand, um den Sinn stiftenden Worten von Édouard Glissant zu lauschen. Der Schriftsteller und Kulturtheoretiker, der zeitlebens zwischen seiner Heimat Martinique und seiner Wahlheimat Paris pendelte, ist dort am 3. Februar 2011 verstorben. Mit Verweis auf den Jazz als gelungenes Beispiel multikultureller Kreativität, plädiert er im eingespielten O-Ton für die „Idee der Vermischung, der Multikulturalität und der Kreolisierung“. Man solle sich vom Gedanken verabschieden, dass Unterschiede etwas sind, das Gegnerschaft erzeuge. Glissant spricht von intuitivem Verstehen, von einer kommenden Poetik, die die Beziehungen zwischen den verschiedenen Menschheiten harmonisieren werde. Ob die Gruppe den intellektuellen Vordenker in Fragen postkolonialer Identität richtig verstanden hat, wenn sie sich am Ende des Stückes ethnisch sortiert, als französisches, asiatisches und afrikanisches Trio präsentiert?

Der Schluss wirkt wie die Kapitulation vor dem selbst formulierten Anspruch einer „Symphonie des Andersseins“. Es wundert kaum, dass sich das Publikum nach der Vorstellung weniger über den profanen Tanz, die Interkulturalität der Menschheiten und die Kreolisierung der Kultur unterhält, als über das Theremin, die Funktionsweise des kaum bekannten Klangerzeugers und die tänzerische Spielweise der Musikerin.

Ganz anders Sankai Juku, eine rein japanische Männergruppe, die nur in der Altersstruktur differiert. Was sie verbindet ist eine gemeinsame, fast 40-jährige Geschichte der tänzerischen Zusammenarbeit sowie die starke Verwurzelung im eigenen kulturellen Kontext, das heißt mit identischer Sprache und einem von Shinto und Zen-Buddhismus geprägtem Hintergrund. Zu diesem gehört auch ein besonderes Naturverständnis, das sich im Namen Sankai (Berg-Meer) Juku (Nachhilfe) widerspiegelt. Der Körper ein Tempel, der Tanz eine heilige Handlung, wo sich das Abendland auf die (Heilige) Schrift bezieht, wird in Japan - vom Kulttanz über Noh-Dramen bis in den zeitgenössischen Butoh -, in erster Linie der Tanz, und damit das Instrument des Tanzes, also der Körper verehrt und gepflegt. Über ihn vermittelt sich der Kreislauf der ewigen Wandlung von Geburt, Leben, Tod und Wiederkehr. „Tobari. Wie im unendliche Fluss der Energie“ nennt die Gruppe ihr Stück, das den stetigen Wandel zelebriert. So geschmeidig und fließend wie die Übergänge von meditativ-sakraler zu sportiv-profaner Kunst in Fernost, so organisch sind Gesten und Bewegungen.

Acht Tänzer, darunter der Gründer der Gruppe, Ushio Amagatsu, schweben über den mit Puder ausgelegen Boden. Solistisch, in Dreier- und Viererkonstellationen umkreisen sie wie von magischer Hand geführte Planeten ein reflektierendes Oval in der Bühnenmitte. Sie wachsen pflanzengleich, sacken in sich zusammen oder verschwinden im Dunkel. Immer wieder werden Zeichen in den Raum geschrieben, aus Gesten, Fingerzeig und stummer Klage, die eine wortlos sanfte Sprache der Demut sprechen. „Tobari“ ist der Vorhang zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Erkenntnis und Nichtwissen, zwischen Stille und Klang. Diesen Vorhang nimmt die Inszenierung wörtlich, er schiebt sich als trennendes Element zwischen den Bühnenhintergrund, einen mit Sternen übersäten Himmel, und den Ritualraum davor. Begleitet von raffinierten Klangmetamorphosen (Takashi Kako, Yas-Kas, Yochiro Yoshikawa), die mit wenigen rhythmischen Akzenten den endlosen Energiestrom suggerieren, greift die eingeschworene Gemeinschaft kahl geschorener, schlohweiß geschminkter Tanz-Mönche am Rande des Alls ins Nichts. Stehende Ovationen für diesen Tanz ohne Worte, der für sich selbst spricht.

Aus dem Bann des Stückes in die profane, fast tanzlose Realität klatscht sich das Publikum am Ende eines wunderbaren Tanzfestivals sprachlos, mit viel Applaus langsam heraus. Das Grundmissverständnis liegt wohl im Verhältnis von Sprache und Körper. Am Anfang war das Wort. Seit biblischen Zeiten sprechen wir Europäer der Sprache als Erkenntnisinstrument einen übergeordneten Rang zu. Die Empirie des Körpers ist im Laufe unserer Geschichte mehrfach in Misskredit geraten. Der zeitgenössische Tanz europäisch-amerikanischer Herkunft tritt an gegen jahrhundertealte Einschreibungen, in denen der Tanz des Teufels war und die Leiblichkeit auf (sündhafte) Sexualität verkürzt wurde. Er kämpft an gegen hierarchisch kopflastige Körperkonzepte und bedient sich paradoxerweise doch immer wieder der Sprache, wie fast alle nichtasiatischen Tanzstücke des Heilbronner Festivals gezeigt haben. Statt in den unendlichen Fluss der Energie zu tauchen, sich einer mystischen Erfahrung hingebend und im Urvertrauen auf die synästhetische Wahrnehmung, Musik, Bewegung, Körper und Bilder zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen zu lassen, rufen wir nach Exegeten, die mittels Analyse Inhalt, Form und Bedeutung herausdestillieren sollen. Im ewigen Davor und Danach der Sinn- und Identitätssuche entgeht uns die universelle Präsenz des Tanzes.
 

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