Gala: Tanzkompagnie der Oper Graz, Jura Wanga und Bostjan Ivanjsic tanzen „Kalt“ an Krücken, eine Choreografie des Direktors Darrel Toulon

Gala: Tanzkompagnie der Oper Graz, Jura Wanga und Bostjan Ivanjsic tanzen „Kalt“ an Krücken, eine Choreografie des Direktors Darrel Toulon

Befreiender Schrei

Rückblick auf TanzArt ostwest 2011 in Gießen mit „Le Cri Persan“ von Afshin Ghaffarian

Gießen, 15/06/2011

Das Festival TanzArt ostwest beruht auf gegenseitigem Austausch: Damit Tänzer und Choreografen sich untereinander kennenlernen und auch das Publikum in Mittelstädten einen Einblick in die Vielfältigkeit des zeitgenössischen Bühnentanzes bekommt. Was zunächst für die Tanzensembles an Stadttheatern gedacht war, hat sich erweitert zum Austausch mit Gruppen der freien Tanzszene und Nachwuchsschmieden, auch größere Theater sind mittlerweile dabei. Ebenso ist der ursprüngliche Austausch zwischen Ost und West längst auch um die Nord-Süd-Achse bereichert. Mitinitiator Tarek Assam, damals Ballettdirektor in Halberstadt, hat mit seinem Start am Stadttheater Gießen 2002/03 das Festival auch in der mittelhessischen Universitätsstadt etabliert und lockt damit regelmäßig an Pfingsten die Tanzbegeisterten an.

Die Tanz-Gala bildet dabei den gesellschaftlichen und zahlenmäßigen Höhepunkt des Tanzfestivals. Hier haben im Schwerpunkt die Ballettensembles der Theater- und Opernhäuser ihren Auftrittsort. Freunde des neoklassischen Balletts kommen auf ihre Kosten, sogar eine Uraufführung war in diesem Jahr dabei: Ein filigraner Pas de deux unter dem Titel „almost as if“, den der Karlsruher Choreograf Terence Kohler mit Tänzern des Bayerischen Staatsballetts in München einstudiert hatte. Die Theaterballettschulen Magdeburg (Irene Schneider) und Hamburg (John Neumeier) schickten Eleven.

Neben den unterschiedlich überzeugenden neoklassischen Stücken (Xin Peng Wang/Dortmund, Stefano Gianetti/Kaiserslautern, Anthony Taylor/Koblenz, Paul Julius/Schwerin, Roberto Scafati/Ulm, Ralf Dörnen/Vorpommern) gab es drei interessante Varianten des Contemporary Dance: zu zweit an Krücken (Darrel Toulon/Graz), im humorvollen Miteinander verbunden (David Williams/Ingolstadt) und zu dritt um einen Stuhl rangelnd (Tarek Assam/Gießen).

Bei den Spätvorstellungen im Theaterstudio, die alle um das Thema Selbstfindung kreisten, waren in diesem Jahre erstaunlich viele Erstchoreografien von Mitgliedern der Tanzcompagnie Gießen dabei - Ekaterine Giorgadze, Meindert E. Peters, Morgane de Toeuf, Keith Chin und Alexey Dmitrenko; das hat womöglich mit dem Weggang langjähriger Ensemblemitglieder zu tun. Die Junior-Company des Tanzhauses NRW beeindruckte mit ihrem Stück „Freiwillige Selbstkontrolle“ unter der Leitung von Amelie Jalowy und Guido Markowitz. Die ausländischen Gäste der freien Szene brachten ein großes Spektrum an Choreografien mit. Zum ersten Mal gekommen waren: The Scottish Dance Theatre (Joan Clevillé) mit einem Stück um das Abbröckeln einer Beziehung aus weiblicher Sicht. Das Colletivo NaDa aus Neapel (Antonello Tudisco) beschäftigte sich mit der Unfähigkeit der Menschen zu kommunizieren; eine erstaunliche Mischung zwischen moderner Technik und italienischer Opernarie. La Veritá Dance Company (Natasa Frantzi, Alex Kyriakoulis) aus Athen zeigte ein Zweipersonenstück um einen Möchtegern-Macho und eine neurotisch-unterwürfige Frau. Die Breathing Art Company aus Bari machte sich spielerisch auf die Suche nach dem kleinen Gott der Liebe: „Who killed Cupido?“ Und Massimo Gerardi (Köln), der mit der Tanzcompagnie Gießen die „Puppentänze“ einstudiert hatte, war nun selbst als Tänzer zu erleben, in einem Duett rund ums Bett, bei dem das Lügen und Sich-Verstellen Thema war. Schon mehrfach in Gießen dabei waren: Die Hagit Yakira-Company (Israel/London), die sich in „Sunday Morning“ mit Familiengeschichte(n) befasste.

Auch erfahrene Choreografen beweisen ihr Können: Jutta Ebnother (vormals Wörne), Leiterin des Balletts in Nordhausen, hatte eine Tänzerin mit einem kurzen und intensiven Solo geschickt, das vom deutschen Ausdruckstanz der 20er Jahre inspiriert zu sein schien – Mary Wigmans „Hexentänze“ ließen grüßen. Am letzten Abend brillierte die Compagnie Irene K. von Irene Kalbusch aus Eupen in Belgien mit „Cocon“, einem zauberhaft-bizarren Stück um die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling, bei dem Plastikfolien eine ganz neue Ästhetik entwickelten. Und mit „Yesterday’s Bird“ bewiesen zwei US-Amerikaner aus der Gruppe von Hofesh Shechter in Brighton, dass Tanz auch ein wohltuendes Therapeutikum sein kann. Selbstfindung, die zwischen dem Tänzer Jason Jacobs und dem Geiger Andrew Maddick in einfühlsamer Zwiesprache verlief.

Den Höhepunkt des TanzArt ostwest-Festivals in Gießen bildete am Sonntagabend die Deutschlandpremiere von „Le Cri Persan“ des iranischen Tänzers und Choreografen Afshin Ghaffarian. Die einstündige Performance wurde zweimal aufgeführt und im Anschluss ein Gespräch angeboten. Dabei erfuhr das interessierte Publikum, dass Ghaffarian (geb. 1986) im Iran Schauspiel studiert hat und seine Passion für den Tanz nicht leben konnte, da dieser im Iran unerwünscht ist. Seit 2009 lebt er in Paris im Exil, weil er als Parteigänger der „Grünen Revolution“ während des Gastauftritts seiner Theatergruppe bei den Festspielen Oberhausen auf der Bühne Freiheit für Iran gefordert hatte. Danach durfte er nicht mehr zurückkehren.

Er nutzt seitdem in Paris das Angebot für das Studium des Contemporary Dance und hat die Compagnie des Réformances (Reform und Performance) gegründet, wobei er der einzige Performer auf der Bühne ist, die anderen vier sind für die Erarbeitung und den Background zuständig. „Le Cri Persan“ ist ihre erste abendfüllende Choreografie, für die Ghaffarians Ausgangsidee war, etwas Universelles zu schaffen, das von den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft ausgeht und nichts weniger als die Menschwerdung zeigt. Ein Mann betritt mit Mikrofon und Redeskript die Bühne, doch scheitern seine Versuche zu sprechen. Blitzlichter verändern die Szenerie, er entkleidet sich, zündet drei Kerzen an, legt sich nieder, alles ist Stille und Dämmerlicht. Ein intensives Wimmern steigert sich zum befreienden Schrei, ein Wasserschwall von oben lässt das Menschenwesen schließlich aus dem Staub aufspringen. Er entdeckt seinen Körper mit dem Stilmittel der sich ständig wiederholenden Bewegungen (zur Minimal Music von Steve Reich), im Westen bereits bekannt von den unentwegt um sich kreisenden Sufi-Tänzen. Scheinen diese Rituale den Performer streckenweise in Trance zu versetzen, so wechselt er doch abrupt in kontrollierte Bewegungen, die durch Musik- und Lichtwechsel angezeigt werden. Nach vielen Momenten des Fallens und Klagens entdeckt er schließlich die Sprache, hält aufrecht schreitend eine überzeugende Rede (in Persisch?) und lernt ‚Nein’ zu sagen. Das Heimatgefühl wird in einem sehr ästhetischen Volkstanz zu orientalischer Musik zelebriert. Die Menschwerdung erfährt ihren Höhepunkt in einer Gedichtrezitation auf Deutsch: das „Lied der Freiheit“ – der Tänzer ist wieder mit Hose und Hemd bekleidet, trägt sein Anliegen mit brechender Stimme und mit dem Rücken zum Publikum vor: Ein erstaunliches Pathos, das bei ihm jedoch ganz natürlich wirkt. Im Abschlussbild öffnet er eine verborgene Tür, klettert zwischen den Gitterstäben hinaus auf den Hof, in die Freiheit. Das vorwiegend junge Publikum applaudierte begeistert und langanhaltend. Selten war eine Choreografie so unmittelbar. Von diesem jungen Choreografen und Tänzer wird noch einiges zu erwarten sein.

www.tanzart-ostwest.de

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern