Perspektivwechsel auf der Suche nach der Kreativität

Anna Halprin, Tanz-Prozesse-Gestalten

Berlin, 13/01/2011

/img/redaktion/halprin.jpg „Now more than ever in my lifetime I see the need to once again redefine dance as a powerful force to transform, heal, educate and make whole our lives, a dance that will speak to our needs today. (…) I am thrilled that this book will be published in Germany. As a Jewish dancer and educator it symbolizes reconciliation and a return to peace.” (Anna Halprin, Vorwort, 2009)

Jetzt, da durch Film und DVD „Breath Make Visible” (projektorfilm.de) vielen Interessierten im deutschsprachigen Raum das ‚Projekt Halprin‘ erstmals in Bewegung nahe gebracht wird, scheint es sinnvoll, das im K. Kieser Verlag erschienene Buch „Anna Halprin. Tanz-Prozesse-Gestalten“ von Gabriele Wittmann, Ursula Schorn und Ronit Land in den Fokus zu rücken. Diese fundierte und höchst anregende Publikation (gefördert im Rahmen von Tanzplan Deutschland) gibt im ersten Teil eine Einführung in den künstlerischen Lebensweg der Performance-Pionierin. Der umfangreichere zweite Teil hinterfragt die Produktion und Rezeption von Halprins körperzentriertem „Life/Art Process“ und befragt dessen Grenzen und Grenzüberschreitungen. Die Autorinnen, auf unterschiedliche Weise involviert, waren vertraute Mitstreiterinnen Anna Halprins. Die Beiträge spiegeln Anna Halprins radikalen Perspektivwechsel weg von der narrativen Bühne hin zu dem, was der Tanz als kollektive Improvisation in den Tänzern und in den Zuschauern bewirkt.

Gabriele Wittmann beschreibt Anna Halprins Entwicklung in Bezug auf das Studium bei Margaret H'Doubler (sie prägte den Begriff des „intelligenten Tänzers“) in Wisconsin als Reisen „in die innere Aufmerksamkeit des Körpers“ durch Spüren, Fühlen, Denken, betont den Einfluss des Bauhauses auf die Vorstellung des Raumes innerhalb und außerhalb des Körpers, die Transformationen zwischen Malen, Schreiben und Tanzen, die interdisziplinären Praxiserfahrungen der kollektiven Kreativität und der ungeteilten Künste, die Rolle des Lehrenden als Stimulator. In der Arbeit mit Kindern entdeckte und faszinierte Halprin die Übertragung von Bewegung in Bilder, dies bildliche Denken – die Erkenntnis, dass durch das Zeichnen die Bewegungen des Körpers verändert werden, wurde später eine bahnbrechende Entdeckung für die Neudefinition von Tanz als heilende Kraft. Die Visualisierung von Bewegungsprozessen hat Anna Halprin 1972 auch während ihrer Krebs-Erkrankung an sich therapiert und seit 1980 in ihren Begleitprogrammen für Krebskranke am Creighon Health Institute Kalifornien angewandt. Kreative Selbsthilfe-Rituale boten (tabuisierten) HIV-Kranken helfende „tasks“.

Anna Halprin und ihr Mann Lawrence starteten 1955 auf ihrem „Dance Deck“ in der Landschaft Kaliforniens den „San Francisco Dancer's Workshop“. Für das Künstlerkollektiv SFDW wurden Stimme, Musik, Objekte, Körper vielgestaltiges Material für nicht narrative Improvisationen. 25 Jahre kreierte die Gruppe Performances, tourte in den USA und auf europäischen Festivals, polarisierte auch in unkonventionellen Opern-Performances die Zuschauer. Die späteren Protagonisten der „Judson Church Group“ - Yvonne Rainer, Ruth Emerson, Trisha Brown und die Performer-Komponistin Meredith Monk - waren bei Sommerworkshops dabei. 1963 choreografierte Anna Halprin ihre erste Oper für die Biennale in Venedig. Wittmanns einführendes Kapitel unterstreicht, wie engagiert Anna Halprin, beeinflusst durch die Begegnung mit indianischer Kultur, den Zuschauer (ab 1967 beginnend mit „Ten Myths“) als aktiven Teil in ihre ganzheitliche Auffassung von totaler Kunstproduktion einzubeziehen beginnt. Die Performances entwickeln sich spontan mit wenigen Absprachen, sparen Emotionen nicht aus und nehmen, als Reaktion auf die zugespitzten gesellschaftlichen Gegensätze in der amerikanischen Gesellschaft, soziokulturelle und politische Themen auf. Die Gruppe wandelte sich bewusst zu einer multi-racial company (gekoppelt mit einem 12-jährigen Stipendien-Programm für Menschen unterschiedlicher Ethnien und kultureller Hintergründe). Seit „Citydance“ (1977), ein ganzer Tag kollektiven Tanzens an verschiedenen Orten in San Francisco, initiierte Halprin Friedenstänze in vielen Ländern der Erde.

Die Tanz- und Gestalttherapeutin Ursula Schorn, ausgebildete „Halprin Practitioner“ und enge Mitarbeiterin bei den Sommerkursen am Esalen Institute, beschreibt im zweiten Kapitel den „Life/Art Process“ als Bausteine für kreatives Handeln, wie sie mit der Gründung des Tamalpa Institute 1978 durch Anna Halprin und ihre Tochter Daria entwickelt wurden. Schorn erläutert die theoretischen Wurzeln dieser Bausteine für Kreativität in Gestalt der humanistischen Psychologie, die seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts weit über die Grenzen der USA die Kunstproduktion, Pädagogik und Philosophie beeinflusste, weil sie konsequent den Menschen in seiner Ganzheit als biologisches, psychisches und soziales Wesen betrachtet. Halprin teilt diese Grundauffassung und setzt auf die immer mögliche Veränderung des Menschen durch Förderung der individuellen Kreativität. Halprin sucht nach Wegen „körperliche, emotionale und mentale Barrieren aufzulösen, um das Zusammenspiel von Eindruck und Ausdruck in einen kreativen Fluss zu bringen“. Halprins ganzheitlicher Ansatz ist im Modell der drei Ebenen der Wahrnehmung und im „Five-Part-Process“ fokussiert. Ebenso haben die vier Grundformen von Halprins „Movement Ritual“ nicht Normierung sondern differenzierte Bewegung des Individuums zum Ziel. Ursula Schorn legt dar, wie Anna Halprin im Modell des psychokinetischen Visualisierungsprozesses Imagination, Visualisierung und Bewegungsübertragung als aufeinander aufbauende Schritte nutzt, um „die innere Landschaft des Tanzenden zu verstehen“. Gleichermaßen anregend sind die Methoden der Erzeugung kollektiver Kreativität („RSVP Cycles“) und Tanzrituale des Friedens („Earth Run“) und die Bedeutung des „scorings“. Sie begannen 1980 als Tanzrituale rund um den Mount Tamalpais im Norden von San Francisco und vereinten später hunderte Teilnehmer im „Planetary Dance“ in vielen Orten der Erde. Im 4. Kapitel untersucht Ursula Schorn (an drei eigenen Beispielen) den therapeutischen Prozess: „Ich, Du und Wir – drei soziale Dimensionen greifen ineinander und schaffen einen gemeinsamen Erfahrungsraum, der das Individuum in einen größeren Kontext stellt und aus kränkender und krankmachender Isolation befreit“.

Gabriele Wittmann benennt die weißen Flecken in Bezug auf die deutsche Tanzgeschichtsschreibung über die US-amerikanische Postmoderne und betont zwei Dinge, „die Anna Halprin für die Tanzgeschichte interessant machen: Zum einen hat sie durch ihren speziellen Zugang zu improvisatorischen Methoden dem Tanz in den USA nach 1945 eine neue Richtung gegeben, die eine Generation junger Tänzer-Choreografen bei ihr aufgesogen hat. Zum anderen hat sie in den achtziger Jahren durch Methoden wie die „RSVP Cycles“ großen Gruppen eine Methode in die Hand gegeben, mit der sie kollektiv arbeiten können“. Anna Halprin hat sich immer als eine Künstlerin verstanden, die auf der Suche war und Bewegung in ihren Zusammenhängen erforschte. In der öffentlichen Wahrnehmung jedoch führte ihre Arbeit bis in die 90er Jahre zu Verunsicherung.

Der vorliegenden Publikation gelingt es (in Einzelbetrachtungen und drei Dialogen der Autorinnen miteinander) ein Puzzle der Tanzgeschichte verstehbar zu machen und das Phänomen Anna Halprin als eine an lebenslange Veränderung glaubende Tänzerin, Choreografin, Performerin und Heilerin mit starker gesellschaftlicher Verankerung bekannt und erlebbar zu machen.
Von zentraler Bedeutung erscheint mir das fünfte Kapitel, in dem die israelische Tanzpädagogin Ronit Land eine engagierte, vom eigenen Erfahrungsschatz kündende „Einführung in das pädagogische Profil Anna Halprins“ unterbreitet und dabei grundlegend auf die Verknüpfung von tanzpädagogischen Lernzielen mit realen Lebenssituationen im „Ich-Du-Wir-Prinzip“ verweist. Ronit Land, die seit dreißig Jahren die Halprin-Methodik in Israel vermittelt und seit 1990 als Leiterin des Fachbereichs Tanz der Akademie Remscheid wirkt, betont dieses soziale Lernen mit Mitteln der Kunst, das im kollektiven Austausch entsteht. „Die Fähigkeit zum ästhetischen Denken wächst durch das Trainieren von Sinnlichkeit“ umreißt den grundlegenden Zusammenhang tanzpädagogischer Arbeit. Die Autorin beschreibt das körperliche Lernen und das Umlernen alter Muster. Ronit Land stellt grundlegende Fragen an die tanzpädagogische Arbeit und beschreibt unterschiedliche Projekte, in denen „der Dialog zwischen den eigenen Gefühlen und dem künstlerischen Gegenstand“ eingefordert wurde. „Wann und unter welchen Umständen und Voraussetzungen steht einem jungen Menschen eine aktive Tanzerfahrung zu und wie soll diese aussehen?“ In Israel steht Tanz in der Mitte des Bildungssystems. „Eine intensive Beschäftigung mit den ästhetischen und gesellschaftlichen Komponenten der Tanzkunst gibt den Kindern und Jugendlichen die Autonomie wieder zurück, die sie in dieser belastenden Realität dieser Weltregion verloren haben“. Eine zeitgemäße Pädagogik darf die Alltagswirklichkeit nicht aus den Augen verlieren, nicht ausblenden. Aktuelle pädagogische Leitbilder einer prozessorientierten Ausbildung in Zeiten der Unsicherheit brauchen (mit Bezug auf Halprins Friedensarbeit) zur Sinnstiftung den „Blick aus dem Tanzstudio“ heraus.

Das Autorinnen-Trio versteht diese Veröffentlichung dezidiert als „Würdigung eines außergewöhnlichen künstlerischen Werks (…) Das Anlass gibt zu Fragen – und noch mehr Fragen“. Genau hierin liegt der Zündstoff für die heutige Rezeption. Das Buch ist eine vielgestaltige Inspiration für alle Pädagogen, Tanzkünstler und Therapeuten, die das schöpferische Gestalten in unterschiedlichen sozialen und künstlerischen Kontexten erproben und fördern. Anna Halprin (1920 – 2009) hat die scheinbar festgefügten Grenzen von Kunst, Pädagogik, Therapie und politischer Aktion vielfach überschritten. Beeinflusst vom Begründer der Gestalttherapie Fritz Perl und der humanistischen Psychologie erprobte sie lebenslang ihr eigenes methodisches System. Halprins Überzeugung vom transformativen Potenzial des Tanzes hat viele Menschen begeistert und ermutigt erneut zur eigenen Grenzüberschreitung, zur Veränderung, zum Perspektivwechsel. Halprins Projekte (120 Solo- und Gruppenstücke, Events und Rituale) waren und sind eine spannende Einladung zur Bewegung von Körper und Geist, zur Interaktion von Körperaktion und Gefühl. Der Zusammenhang von Ästhetik (künstlerischen Gestaltungs- und Erfahrungsprozessen) und Lebenskompetenz wird durch die Lektüre dieses Buches fundamental erlebbar.

Ronit Land/Ursula Schorn/Gabriele Wittmann: Anna Halprin. Tanz-Prozesse-Gestalten K. Kieser Verlag, München 2009, ISBN 978-3-935456-24-1; 19,90 Euro

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