Das Palindrom des Vergessenen

Erinnerung schwerelos vor das Vakuum getanzt: „Rückwärts“ von Renate Gradziadei

Bremen, 15/07/2010

von Maja Maria Becker

Der Raum ist ein anderer. Die Bewegung ist die gleiche. Der Körper dreht sich und dreht sich und dreht sich, aus einem immer neu im Körper verorteten Impuls heraus. Der Raum ist der Eingangsbereich des von David Chipperfield restaurierten Neue Museums in Berlin. Der Raum ist ein Spotlight auf der Bühne der Schwankhalle Bremen. Der Körper ist der gleiche, ein Jahr später. Die Choreographie war Sasha Waltz' Dialogen 09, die Bewegung war obsessiv, fast schmerzhaft durch ihre Dauer und Präsenz. Was ist aus der Bewegung geworden, die in diesem Körper abgelegt wurde? Wie hat sie sich im Laufe der Zeit verändert? Was unterscheidet diese heutige Bewegung von den vergessenen, nicht wiederholten? Und woraus entspringt der Impuls einer Bewegung, wenn sie nur Erinnerung ist?

Renate Graziadei stellt solche Fragen und versucht sie zu ergründen. Ihr neues Solostück Rückwärts war nun beim Xtra Frei Festival in Bremen zu sehen. Die vielfach ausgezeichnete Tänzerin und Choreographin wirft einen Blick auf die letzten zehn Jahre ihres Schaffens und erlaubt dem Zuschauer einen intimen Blick in ihr Inneres und auf ihre jahrelange Beschäftigung mit Tanz. Zu Beginn ist der Raum dunkel. In nahezu unerträglicher Stille ermöglicht die Künstlerin die Konzentration auf jede noch so kleine Bewegung, eine Geste, eine Hand. Sie liegt in einem winzigen Lichtkegel und betritt ihre Erinnerung wie eine Schlafende ihren Traum. Und von derselben Stofflichkeit wird ihr Körper, agierend in einem nahezu schwerelosen Feld, von der rückhaltlosen Reduktion zur lebendigen Gestik geführt. Marioneske Bewegungen spiegeln die Unabhängigkeit der Körperteile und ihrer Vergangenheit wider. Sie strahlen in die gesamte Präsenz einer Gewohnheit, einer Erinnerung aus und choreographieren Erinnerungszonen in den Körper. Was seinen einzelnen Teilen innewohnt, kehrt zurück in den Tanz, um etwas Neues zu bilden. Die Stille ist so groß, dass jede Bewegung, jedes Atmen hörbar wird.

Zwischendurch setzt Musik ein, und der Tanz wird vom Gitarristen Ralf Krause begleitet; Musik, die wie eine Erlösung in die Stille dringt und den Tanz mehr interpretiert, als Bezug darauf nimmt; Klänge, unverbunden. Doch wie jede Bewegung eine neue Bewegung ist, ordnen sich auch die beiden Einheiten Klang und Rhythmus zu einer neuen Verbindung, wird die neue Choreographie eine neue Komposition von Bewegungsabläufen und Musik, die einander bedingen wie Bewegung, Impuls und Erinnerung.

Auch Bewegungspause wird als Erinnerungsvorgang inszeniert. Die Tänzerin steht mit dem Rücken zum Publikum, steht lange Zeit nur still, und einzig ihr Atem bewegt sich, durchwebt sichtbar den freien Rücken und die Muskulatur der Tänzerin. Luftholen und -abgeben als Erinnerungsarbeit. Erinnerung funktioniert durch das Wieder-Erinnern. Elemente werden verstärkt, während andere ausgelassen, vergessen werden. Nicht aber Renate Graziadeis Bühnenpräsenz, die sich dem Zuschauer ins Gedächtnis einprägt als große glückliche Erfahrung.

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