German Angst von eigentümlicher Aktualität

Tanz! Heilbronn: Martin Nachbars „Urheben Aufheben“ zu Gast in den Kammerspielen

Heilbronn, 17/05/2010

Noch eine Hoyer-Rekonstruktion! Das dachte die Tanzszene in den 90er Jahren. Nach Arila Siegert (1953), die sich als Dresdnerin dem Palucca-Erbe verpflichtet sah, und Susanne Linke (1944), die ihrer Rekonstruktion der „Affectos humanos“ (Menschliche Leidenschaften) von Dore Hoyer (1911-1967) einen Schuss Tanztheater hinzufügte, machte sich Martin Nachbar (1971) auf den Weg ins Tanzarchiv. Das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit eben diesem (auf Film dokumentierten) Stück präsentiert „Tanz! Heilbronn“ in den Kammerspielen als Abschluss des fünftägigen Tanzfestivals.

„Urheben Aufheben“ betitelt Nachbar seinen Selbstversuch. Anders als beide Vorgängerinnen, will er nicht die Illusion des Originals herstellen. Vielmehr nutzt er das tänzerische Basismaterial, um das „Spannungsfeld zwischen Original und Interpretation, zwischen Wiedererkennen und Entdecken, zwischen Bewahren und Erneuern“ auszuloten. Rückwärts laufend zieht er im Uhrzeigersinn eine Spirale durch den leeren Raum. Landet an einer Klapptafel, erläutert mit Kreide formelartig sein Konzept und Vorgehen.

Körper, Musik, Tanz, Licht und Kostüm sind die Zutaten für die Rekonstruktion des Zykluses menschlicher Leidenschaft aus „Eitelkeit“, „Begierde“, „Hass“, „Angst“ und „Liebe“. „Hoyer ungleich Nachbar“ stellt er lapidar fest. Sein Kostümgeschmack sei anders und die bessere Lichttechnik von heute wolle er nutzen. Folgerichtig wischt er die Begriffe Körper, Kostüm und Licht. Nach den ersten beiden Stücken lehnt er sich an die Tafel, umreißt mit einer Kreidelinie den eigenen Oberkörper, Versuch einer Symbiose posthum. Er wischt den Begriff Musik aus und tanzt „Hass“ und „Angst“ in beklemmender Stille. Den Kopf in den Händen vergraben, windet sich der Oberkörper in großen Kreisen, während die tief gebeugten Knie schlottern, eine gebeugte, geduckte Gestalt, die in kleinen Schritten rückwärts taumelt. German Angst, von der Hoyer in den Leib geschrieben - den eigenen und den der Tanzgeschichte -, von Nachbar verkörpert und dramaturgisch nachbereitet. Genial.

Schweißgebadet nimmt Nachbar das transportable Mikro ab, tritt von der Bühne und überlässt den Zuschauer den zuvor aufgenommenen Atemgeräuschen. „Erinnern“ und „Vergessen“, zwei Sequenzen, die er einfügt, bevor er „Liebe“, mit der er noch nicht fertig sei, à la Hoyer skizziert. Viel Beifall für ein aufs Wesentliche konzentriertes Stück. Assimilierte Ausdruckstanzgeschichte von eigentümlicher Präsenz und Aktualität.
 

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