Die Kinder der Nacht „spielen das Spiel“

Cocteau, Glass, Schindowski im Musiktheater im Revier

Gelsenkirchen, 22/03/2010

In einer eindrucksvollen, spartenübergreifenden Produktion des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen inszeniert und choreografiert Bernd Schindowski Philip Glass‘ Tanzoper „Les enfants terribles“ nach Jean Cocteaus gleichnamiger Erzählung. Die pochenden, hämmernden, drängenden Akkorde und Läufe der minimalistischen Partitur für drei Keyboards fangen das nervöse Flair der Episoden zwischen Realität und Fantasie aus dem Leben des inzestuösen Geschwisterpaares Elisabeth und Paul minutiös ein. Die Dialoge der vier Teenager – neben den Geschwistern die Freunde Gérard und Agathe – werden von vier Gesangssolisten gesungen und gleichzeitig von vier Tänzern getanzt. Ein Erzähler rezitiert verbindende Ausschnitte aus Cocteaus Originaltext.

Glänzend gelingt Schindowki die Verteilung der unterschiedlichen beteiligten Künstler im Theaterraum: die Keyboarder (Annette Reifig, Askan Geisler und Desar Sulejmani) sitzen, samt Dirigent Bernhard Stengel, direkt vor den Zuschauern im Parkett. Das Gesangsquartett mit Diana Petrova, Denitsa Pophristova, Michael Dahmen und E. Mark Murphy singt von der ersten Rangloge. Den Erzähler, Schauspieler Thomas Weber-Schallauer, lässt Schindowski auf der zweigeteilten Bühne mitten unter den Tänzern wandern und wandeln, ohne dass die Jugendlichen ihn je bemerken - ein schlüssiges Signal, um die völlige Abgeschiedenheit von der Realität zu zeigen, wenn Elisabeth und Paul „das Spiel spielen“.

In eine Fantasiewelt tauchen sie dann ein, lassen dabei auch ihrer erotischen Liebe für einander freien Lauf. Wie sehr die 19-jährige Elisabeth dem 17-jährigen Bruder ihre Überlegenheit zeigt, wo immer sie kann, ihn tyrannisiert und schikaniert – vor allem mit der Androhung, ihn zu verlassen, so sehr setzt sie in panischer Angst alles daran, seine aufkeimende Liebe zu Agathe zu zerstören, indem sie Agathe mit Gérard verkuppelt. Dieses Leben ist eine Sackgasse: die Tragödie endet mit dem Selbstmord der Geschwister.

Die Bühne hat Johannes Leiacker in zwei Ebenen geteilt, in draußen und drinnen - Realität und Fantasie: vorn das spartanisch möblierte Zimmer der Geschwister, hinten Träume, Erinnerungen, Fantasien. Beide Ebenen verschieben sich immer wieder, werden hochgefahren oder abgesenkt – dezente Signale wie auch die Kostüme von Andreas Meyer, der vor allem die schillernde Vielgestaltigkeit von Elisabeth meisterlich charakterisiert. Die sehr junge, gazellen-zarte, langbeinige Alina Köppen wächst in der Rolle der Elisabeth über sich hinaus. Schindowski hat ihr die Rolle virtuos auf den Leib choreografiert, sodass ihre Gliedmaßen aus der Bewegung heraus ihre Gedanken und Gefühle aussprechen. Evgeny Gorbachev ist der zwar sehr maskuline, aber deutlich von seinem fast tödlichen Unfall gezeichnete und auch mental leidende Paul. Min-Hung Hsiehs Gérard bleibt leider durch die ständig wiederholten, wenig aussagekräftigen neo-klassischen Posen und Sprünge farblos. Priscilla Fiuza – die einzig „Normale“ des Quartetts - tanzt die lebensfrohe Agathe frisch.

Mit dem wunderschönen Bild einer harmlos erscheinenden Schneeballschlacht, bei der Paul allerdings von einer Eiskugel getroffen und schwer verletzt wird, beginnt die Tanzoper. Wie kalt die Welt ist, zeigt ein stetig wachsender Eiszapfen. In der letzten „Draußen“-Szene, als drinnen die Geschwister tot liegen, reicht er bis zum Boden. Ein eindrucksvoller Schluss dieser hochkarätigen Inszenierung eines zeitgenössischen Repertoire-Stücks.

www.musiktheater-im-revier.de / www.philipglass.com

 

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