„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“

Premiere des neuen Tanzstücks „Cassandra“ von Tarek Assam

Gießen, 21/02/2010

Für sein neues Tanzstück wählte der Gießener Tanzdirektor Tarek Assam mit „Cassandra“ wieder ein Motiv der antiken Mythologie. Die Erzählung von der Seherin, deren Weissagungen nicht geglaubt wird, zählt zu den kulturellen Basics unserer Kultur, sie ist mehrfach interpretiert und szenisch umgesetzt worden. In der deutschsprachigen Literatur liegt die Kassandra-Erzählung von Christa Wolf vor, die sie noch zu DDR-Zeit als Gesellschaftskritik schrieb. Die spannend umgesetzte und optisch beeindruckende Premiere wurde mit lang anhaltendem Applaus bedacht.

„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“ Ein ungewöhnliches Motiv im Rahmen eines Tanzstücks und Assam gesteht im Gespräch zu, dass es schwieriger war als gedacht, die (Kriegs)Lüge tänzerisch umzusetzen. Das Kreativteam am Gießener Stadttheater brachte Radiogeräte auf die Bühne - als Symbol der ersten schnellen und weltweiten medialen Verbreitungsmöglichkeit, die wir kennen. Die Atmosphäre von Zweifel, Fragen und Unwohlsein transportiert die Musik von Alban Berg (Lyrische Suite für Streichorchester); bravourös eingespielt vom Philharmonischen Orchester unter Leitung von GMD Carlos Spierer.

Die derzeit neunköpfige Tanzcompagnie Gießen präsentiert sich in Bestform. Die einzige durchgehende Figur der Cassandra wird von Magdalena Stoyanova getanzt - mit großer Strahlkraft, Souveränität und Präzision. Die anderen Tänzer schlüpfen kurzfristig in einzelne Figuren, um dann wieder im Ensemble aufzugehen. So gibt eine beeindruckend gereifte Morgane de Toeuf die Liebe (im roten Rolli), Meindert E. Peters den zärtlichen Geliebten Aineias, Eoin Mac Donncha den sprunggewaltigen, dennoch verzweifelt agierenden Kriegsherrn Agamemnon, dessen beste Zeit vorbei ist, und eine kraftvolle Antonia Heß gibt seine mit Hass erfüllte und zur zweifachen Mörderin werdende Gattin Klytemnästra. Zum bewährten Team gehören Svende Obrocki und Victor V. Solis, dazu kommen mit Keith Chin und Ekaterine Giorgadze zwei viel versprechende Neuzugänge.

In das reduzierte und doch überaus wirkungsvolle Bühnenbild (Lukas Noll) zaubert das Licht (Manfred Wende) die wechselnden Atmosphären. Gebäudeartige Elemente sind in drei Ebenen hintereinander gestaffelt, ihre festungsähnliche Anmutung bietet den Tänzern viele Möglichkeiten der Raumerschließung, sie können aber auch nach oben gezogen werden. Bestimmend ist die Horizontale: eine bewegliche Projektionsfläche über die gesamte Breite der Bühne transportiert das Hauptbildmotiv, die Augen der Cassandra. Am Anfang und Ende sind diese geschlossen, mit Beginn ihrer Sehergabe öffnen sie sich und werden allmählich von den Schrecken des Krieges überschattet: von den Vorboten in Gestalt von schwarzen Vögeln, von fallenden Bomben und aufsteigendem Rauch über Ruinen. Die Kostüme sind Streetwear mit diversen Militärelementen wie Hosen in Tarnfarbe. Die Maske verpasst den Tänzerinnen eine farblich akzentuierte Haarverlängerung im Rasta-Look und den Männern einen farbigen Hahnenkamm.

Natürlich bietet Assam keine Nacherzählung des Trojanischen Krieges à la Hollywood, er fokussiert den Blick auf zentrale Aussagen wie Liebe, Lüge, Krieg, Schicksal und Tod. So wie sich das Geschehen aus Sicht der Tempelpriesterin und gemäß der Wolf’schen Kassandra-Erzählung abspielte. Zentrale Textstellen erklingen aus dem Off, eingesprochen von Schauspielerin Irina Ries, unterlegt mit Radioknistern.

Die Musikauswahl stammt von GMD Carlos Spierer zu den choreografischen Ideen von Assam. Für das tragisch-düstere Thema sollte es weniger rhythmische als flächige Musik sein, die durch den Tanz akzentuiert wird. Zu hören sind die sperrige Zwölftonmusik von Arvo Pärt, Sphärisches mit bedrohlichen Einschlüssen von Alban Berg. Am Ende erklingt die im Vergleich tragisch-romantische „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg, wodurch jedoch die Todesszene etwas lang gerät.

Insgesamt eine bewundernswerte Gesamtleistung der beteiligten Stadttheatersparten und die sehenswerte choreografische Interpretation eines altbekannten Mythos, die wieder einmal vor Augen führt, dass sich Geschichte dank der menschlichen Verfasstheit in der einen oder anderen Form doch wiederholt.

Nächste Aufführungen: 25.2., 13. und 27.3.
www.stadttheater-giessen.de / www.tanzcompagnie.de

 

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