Warum ist es am Rhein so schön – und an der Elbe noch viel schöner?

Im 24-Stunden-Takt: Das Ballett am Rhein und das Hamburg Ballett

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Baden-Baden, 17/10/2009

Soviel Ballettprominenz wie bei der Einstandspremiere der neu formierten Schläpfer-Kompanie in Düsseldorf sah man hierzulande nie: ein Top-Event der noch jungen Spielzeit 2009/10. Ihr Erfolg mit den drei Stücken, zwei von Martin Schläpfer selbst, eins vom viel und durchaus zu Recht bewunderten Hans van Manen, ist unbestreitbar – auch wenn sich ein paar Oppositionelle lieber einen neuen „Nussknacker“ oder einen schönen sowjetischen Schinken à la „Gajaneh“ gewünscht hätten. Prächtig das Ensemble, stimmig der Rahmen mit den grafisch wie fotografisch attraktiv aufgemachten Kompaniebuch des Balletts am Rhein, wie die Truppe sich jetzt nennt. Weniger glücklich bin ich über den Transfer der Mainzer Marotte, die Programme zu nummerieren – in Mainz noch (der tausendjährigen Tradition der Stadt zuliebe?) mit römischen Ziffern, in Düsseldorf nun arabisch in Kleinschrift als b.01, was fortgesetzt zu werden droht als b.02 etc. Woran man eine ganze Philosophie des Titels aufhängen könnte. Denn wozu dient ein Titel? Um sich an XXVIII zu erinnern, nicht doch eher an Schläpfers „Pezzi und Tänze“? Sogar er selbst nennt in seinem Werkverzeichnis die Titel der jeweiligen Kreationen und die Daten ihrer Uraufführung – nicht hingegen Programm VI oder Programm XII. Aber vielleicht will er sich ja auf diese Weise die Möglichkeit offen halten, sollte er einmal als Ballettchef nach Kairo überwechseln, die Programme dann in ägyptischen Hieroglyphen zu annoncieren.

Für schwerer wiegend halte ich den Einwand gegen seine Kostümdesigner. Gäbe es nicht das tolle neue Kompaniebuch und das ebenfalls schicke neue Kompanie-Logo (mit dem O für Oper und darunter die Silberwelle des Rheins), könnte man sich fragen, ob Schläpfer denn von allen Geistern des guten Geschmacks verlassen ist, um solche die Tänzer entstellenden hässlichen Kostümen von Thomas Ziegler ( für „Marsch, Walzer, Polka“) zuzulassen, die wie tropfnass aufgehängte, graustichig farblos ausgewaschene Kleider an den Leibern kleben. Doch noch verunstaltender sind Catherine Voeffrays durchlöcherte, zottelige, ständig verrutschenden Leibchen, mit Patchwork-Applikationen versehen, für Schläpfers „3. Sinfonie“: ein Affront gegen die Modestadt Düsseldorf! Was einem umso mehr bewusst wird, wenn man Keso Dekkers raffinierte Ganztrikots für van Manens „Frank Bridge Variations“ dagegen hält, changierend in den Farben und die Stoffe rätselhaft bemustert: entworfen von einem Meistercouturier für die ideal proportionierten Tänzerkörper.

Vierundzwanzig Stunden später in Baden-Badens Festspielhaus die zweite von drei Vorstellungen des Hamburg Balletts mit „Sylvia“ – Delibes‘ Klassiker von 1876 in John Neumeiers 1997 für Paris geschaffener und im gleichen Jahr ins Hamburger Repertoire übernommener Version (leider ohne Live-Orchester in einer anonymen Aufnahme, aber die ist derart subtil, feinhörig und choreografiesensibel eingespielt worden, wie es die Baden-Badener Philharmoniker schwerlich hingekriegt hätten). Das Publikum großbürgerlich und fein betucht. Der Abend ist ein Luxusprodukt hanseatischer Ballettkultur, die Bühne und Kostüme von Yannis Kokkos entworfen, ein Traum von mediterraner Luftigkeit und Leichtigkeit, in reinen, einander komplementär ergänzenden Farben. Hier ist alles hell und klar und rein, dabei wunderbar einfach: eine Orgie des guten Geschmacks! Von Neumeier zeitversetzt bearbeitet, so dass Diana als Göttin der Jagd und Sylvia mit ihren Nymphen an eine Bogenschützinnenequipe erinnern, zu Gast bei den Olympischen Spielen von Athen (sozusagen die Nachfahrinnen der Geschöpfe von Shakespeares Komödianten in einem früheren „Sommernachtstraum“-Wald von Athen).

Und jetzt, beim Wiedersehen nach langer Zeit, geht einem auf, wie Neumeier hier schon vor dem ominösen hundertjährigen Jubiläum der Ballets Russes von 2009 mit der Aufarbeitung der Diaghilew-Genealogie begann. Denn „Sylvia“ ist ja genau das Ballett, für dessen Einstudierung Diaghilew ans Mariinsky-Theater engagiert worden war, die dann doch nicht zustande kam, was ihn dazu zwang, den Beruf zu wechseln und als Impresario der ersten großen privaten Ballettkompanie – eben der Ballets Russes – den Weg zu bereiten. Was für ein Triumph über zwölf Jahre auf das Fernziel zuzuarbeiten, das er in diesem Sommer mit seiner Rekreation des „Pavillon d‘Armide“ erreicht hat! Eine hinreißende Aufführung, musikalisch bis in die Zehenspitzen der Tänzerinnen und Tänzer, ob nun kostümiert in einer modernen Fantasie-Uniform (wie die Leibwächterinnengarde der Akropolis) oder in todschicken Abendroben. Choreografiert in einem klassisch-modernen Idiom, ausgesprochen sexy, randvoll gefüllt mit virtuosen Variationen, kleineren Ensembles und großen Gruppenformationen – alles in kantablem Belladanza-Fluss, von Neumeier als „Drei choreografische Gedichte über ein mystisches Thema“ klassifiziert. Schön wäre es natürlich, wenn er die drei Gedichte noch nachträglich literarisch aufwerten ließe – wie wäre es von der Hamburger Lyrikerin Ulla Hahn?

Dabei sind sie alle unsere Zeitgenossen, diese wunderbaren Hamburger Tänzerinnen und Tänzer, Hélène Bouchet als liebenswerte Sylvia und Leslie Heylmann als Diana, eher eine emanzipierte Schwester der Penthesilea, der so ganz unmachohafte Ivan Urban als Pseudohirtenknabe Aminta und der im Gegensatz zu ihm so potenzangeberische Carsten Jung als Orion sowie der somnambule Dario Franconi als Endymion, der wie unter Drogen stehend einherwandelt. Aber dann müsste man sie alle nennen, diese Mitglieder des Hamburg Balletts, die, aus aller Herren Länder und allen Kontinenten zusammenströmend, mit Elb-Tanzwasser getauft, zu Verkündern des musischen Ruhms von Terpsichore geworden sind.

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