Über die Fähigkeit zu trauern

„Structure and Sadness“ von Lucy Guerin eröffnet die Tanzreihe der Schlossfestspiele

Ludwigsburg, 11/06/2009

Vor acht Jahren haben die australische Choreografin Lucy Guerin und ihre Company das Ludwigsburger Publikum mit zwei Stücken überrascht. Brisante Geschichten, der Presse entnommen, über eine Geiselnahme mit verblüffender Wende („Robbery Waitress on Bail“) sowie über Verarmung und Vereinsamung („The Ends of Things“); die schwarzhumorige, teils slapstickartige Umsetzung dieser Human-Touch-Stories war zum Heulen komisch. Größer dimensioniert und wesentlich ernster ist ihre neue Produktion „Structure and Sadness“ (Struktur und Trauer) aus dem Jahr 2006.

Dem Gedenken jener Arbeiter gewidmet, die 1970 beim Einsturz der im Bau befindlichen West Gate Bridge in Melbourne ihr Leben ließen, übersetzen sechs Tänzer-Performer Gefühle der Hilflosigkeit und Trauer in ein bild- und klangintensives Stück. Der Raum ist dunkel. Wie spärliche Leitlinien markieren winzige Lichtpunkte, rot auf der einen, grün auf der anderen Seite, die Tanzfläche, Farben die später im Liedtext „Crimson and Clover“ (Rot und Kleegrün; ein Hit im Jahr des Unfalls) und als giftgrüne Neonleuchten wieder auftauchen.
Solo mit Lochboden könnte der Auftakt heißen. Ein getanzter Materialtest, der in kühnen Druck- Dreh- und Wurf-Kombinationen des Tänzers die erstaunliche Biegsamkeit und Festigkeit der Holzplatte vorführt. Mal gibt sie nach, mal hält sie stand. Zur Illusion eines schwerelosen Duetts zaubert steiler Lichteinfall eine eigene Struktur aus Licht- und Schattenpunkten auf die durchlöcherte Platte: Tanzpoesie, zum Wegträumen.

So nahtlos wie in dieser choreografierten Symbiose Aktion und Tanz, Funktion und Emotion – in anderen Szenen auch Öffentliches und Privates – ebenbürtig ineinander greifen, so dicht und schlüssig ist das Zusammenspiel aller theatralen Elemente. Während einige Tänzer zu stampfenden Maschinengeräuschen aus hunderten von – zunächst kleinen, dann immer größer werdenden – Holzteilen eine Landschaft bauen, die schließlich die Bühne zu überwuchern droht und in einem Turm gipfelt. Die Protagonisten in einfacher Arbeitskleidung übertragen statische Gesetze in Körpererfahrung, tarieren auf einer Wippe Gewichtsverhältnisse und Balancen aus, finden in der zügellosen Steigerung einer Metapher der zugebauten Welt noch einen, wenn auch kleiner werdenden Platz für Tanz und Emotion. Irgendwann fällt die erste Karte, ein Dominoeffekt entsteht und zieht sich mit feinem Rascheln, wie trockenes Herbstlaub, in Windeseile über die Bühne. Eine Wolke aus Holzstaub quillt auf und alles liegt platt.

Ohne Zeigefinger, aber mit Gespür fürs richtige Timing stellt Guerin die Frage nach menschlicher Vermessenheit, zeigt die Paralyse nach dem Schock, setzt gegen öffentliche Radioberichte über die Katastrophe den Gesang trauernder Witwen, die sich Trost zusprechen. „Structure and Sadness“ ist Trauerarbeit ohne Larmoyanz und peinliches Pathos. Das Stück endet mit der Konstruktion der Riesenbrücke, als stilisierte Darstellung aus unzähligen grünen Neonstäben und einer getanzten Apotheose. In der Reithalle Ludwigsburg gibt es für die mehrfach preisgekrönte Leistung aus Down Under viel Applaus und Standing Ovations.

www.schlossfestspiele.de

www.lucyguerin.com

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