Die Frage, mit der man jeden Morgen aufwachen sollte, heißt: Was werde ich an diesem Tag lernen?

Lloyd Riggins über den „Messias“, über Respekt und darüber, was er nach dem Tanzen machen möchte

Hamburg, 19/02/2009

Mit Annette Bopp spricht Lloyd Riggins, Erster Solist des Hamburg Balletts, über seine großen Rollen, über Unterschiede zwischen den Tänzergenerationen und darüber, was er nach dem Ende seiner Karriere machen will.

Lloyd Riggins, Sie sind seit 13 Jahren in Hamburg und haben hier so gut wie alle wichtigen Hauptrollen in John Neumeiers Balletten getanzt. Was fehlt noch?

Lloyd Riggins: Nichts! Ich bin hier sehr glücklich. In meiner ersten Spielzeit in Hamburg musste ich fast 25 Rollen in 13 Stücken lernen! Das war wie ein Sprung ins kalte Wasser – aber alles war total interessant. Vor allem die Arbeit an neuen Kreationen. In dieser Kompanie zu sein und an dieser kreativen Arbeit beteiligt zu sein, das ist das Spannendste und für mich eindeutig die Hauptsache. Und es ist sicher auch der Grund, warum alle anderen Tänzer auch hier sind. Man weiß ja vorher nie, ob man eine Rolle bekommt und wenn ja, welche: Gruppe? Solist? A- oder B-Besetzung? Ich kann mich da nicht beklagen, ich habe wirklich nichts ausgelassen.

Lloyd Riggins: Haben Sie eine Lieblingsrolle?

Lloyd Riggins: Schwer zu sagen, nichts Spezielles. Ich bin jetzt 39 Jahre alt, es bleibt mir nicht mehr so viel Zeit, wo ich noch große Rollen tanzen kann, mein Körper setzt da Grenzen. Hans-Christian Andersen in „Die kleine Meerjungfrau“ werde ich noch lange machen können, auch das „Weihnachtsoratorium“, das sind Rollen, die ich sehr liebe. Die Rolle des Aschenbach in „Tod in Venedig“ ist körperlich schon anspruchsvoller, wie lange ich das noch kann, weiß ich nicht – ich gebe mir Mühe! Es sind wunderbare Rollen, tief und aussagekräftig. „Messias“ würde ich gern noch einmal tanzen. Das war eine der wichtigsten Rollen für mich, sie hat mich in meiner Persönlichkeit verändert.

Inwiefern?

Lloyd Riggins: Wenn man so eine Rolle erarbeitet, dann geht es ja nicht nur um die Schritte. Es geht viel mehr um die Persönlichkeit, die man darstellt. Bei „Messias“ war das ein Mann mit einer bestimmten Gabe. Da muss man sich überlegen: Wie würde er atmen? Wie würde er sich bewegen? Wie würde er arbeiten, denken, fühlen? Mich dieserart mit „Messias“ zu beschäftigen, war besonders eindrücklich für mich. Ich habe mich gefragt – und auf diese Frage war ich bisher noch nie gestoßen worden: Warum sind wir nicht alle wie dieser Messias? Warum gehen wir nicht so miteinander um? Deshalb habe ich versucht, so zu sein wie er, mit meinem ganzen Wesen. Das war eine Art Wendepunkt in meinem Leben. Es war auch die Zeit, wo mir klar wurde, dass ich nicht mein ganzes Leben auf der Bühne stehen würde. Ich war Anfang 30, hatte in Dänemark schon unendlich viel getanzt, dann Hamburg mit all den großen Herausforderungen, ich war ein wenig erschöpft. In dieser Zeit hat John Neumeier mir die Hauptrolle in „Messias“ gegeben, und es war fast das Einzige, was ich damals gemacht habe. Ich wollte kein „Schwanensee“ mehr und keinen „Nussknacker“, ich hatte das alles schon. Ich wollte etwas anderes, und das hat mir diese Rolle gegeben. Dafür bin ich sehr dankbar.

Was hat sich damit bei Ihnen verändert?

Lloyd Riggins: Ich habe stärker darüber nachgedacht, zu unterrichten und zu coachen. Dem habe ich mich neben meiner Solistentätigkeit auch gewidmet – mal hier, mal dort. Neulich habe ich einem sehr jungen Tänzer „Petruschka“ beigebracht für einen Auftritt bei der Ballett-Werkstatt. Es hat mir so viel gegeben, diesem jungen Mann zuzusehen, seiner Entwicklung in diesem Part. Wir hatten drei oder vier Proben, und bei der Vorstellung war er großartig! Für mich war dieses Coaching bedeutsamer als die Rolle zu tanzen!

Tritt der Tanz dadurch für Sie in den Hintergrund?

Lloyd Riggins: Das kann man so nicht sagen – ich liebe es, zu tanzen, auf die Bühne zu gehen. Aber ich bin zurzeit in einer Transformation. Mich reizt die Aufgabe, den Jungen das beizubringen, was ich in all den Jahren gelernt habe. Damit sie ihre eigene Interpretation machen können, wenn sie auf der Bühne sind – eine reflektierte Interpretation! Das lockt mich sehr. Vielleicht auch deshalb, weil ich auf der Bühne immer gern Partner war. Ich hasse es, mich selbst in den Mittelpunkt zu stellen – dieses ewige „look at me, look at me, look at me“! Ich habe es immer vorgezogen, eine Partnerin dabei zu haben, sie gut aussehen zu lassen, dann sehen wir nämlich beide gut aus und das ganze Stück sieht gut aus. Das ist doch viel wichtiger. Als Tänzer musst du jedes Mal alles geben, alles. Rückhaltlos. Darauf kommt es an, und das müssen die Jungen erstmal verstehen. Es kommt nicht darauf an, was du mit einer Rolle bekommst, es kommt darauf an, was du hineinlegst. Und je mehr du gibst, desto mehr gibt die Rolle dir. Viele jungen Tänzer meinen, das geschehe alles von selbst. Aber das ist ein Trugschluss. Sie müssen es sich erarbeiten. Und das möchte ich gern weitergeben, dabei möchte ich helfen.

Gibt es Unterschiede zwischen den jungen Tänzern heute und Ihrer Generation damals?

Lloyd Riggins: Ja und nein. Ein Tänzer ist ein Tänzer ist ein Tänzer...Aber natürlich hat jede Generation ihre eigene Haltung. Wenn Sie heute Tänzer fragen, die zehn Jahre älter sind als ich, werden sie sicher sagen, dass wir anders sind als sie. Es ist gefährlich zu verallgemeinern. Ich denke, je mehr man getanzt hat, desto schwieriges wird es, etwas Spezielles zu finden, was generationentypisch ist. Die Technik hat sich verbessert, sicher. Das entwickelt sich immer weiter. In Hamburg jedoch geht es weniger um die Technik. Sie ist unser Fundament, sie wird vorausgesetzt. Sie ist Werkzeug, damit wir die Persönlichkeit darstellen können, die wir tanzen. Sie ist ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst oder gar der Inhalt.

Aber Sie haben beim Königlich Dänischen Ballett ja nicht nur Technik gelernt. Was war dort prägend?

Lloyd Riggins: Die Tradition, die Geschichte. Da wird sehr streng auf die Form geachtet. Alles ist exakt festgelegt, und niemand darf davon abweichen. Ich habe viel dort gelernt – das Theatralische, die Bühnenpräsenz, die Charakterisierung, all diese guten alten Werte. Die müssen gelehrt werden. Wir hatten lauter Stücke im Repertoire, die Choreografen gemacht hatten, die längst gestorben waren. Es ist ein grandioses Repertoire, aber es ist historisch. Als junger Tänzer war ich mir darüber nicht im Klaren, aber ich hatte eine Art Leere in mir, mir fehlte etwas. Und dann kam John Neumeier nach Kopenhagen, um „Romeo und Julia“ zu erarbeiten, und „Sommernachtstraum“, die „Fünfte Sinfonie“ von Gustav Mahler, „Des Knaben Wunderhorn“. Und plötzlich wusste ich, was mir fehlte: die Kreation. Die kreative Arbeit mit einem lebenden Choreografen. Wenn du mit jemandem kreativ arbeitest, ist das etwas ganz anderes, als wenn du etwas aufnimmst, was schon fertig ist. Du verstehst ganz anders, was Kreativität bedeutet. Und du weißt: jede Vorstellung ist einzigartig, jede ist eine Kreation für sich, du bist jedes Mal anders auf der Bühne. Es bleibt nie gleich. Und du musst jedes Mal von neuem dein Inneres finden.

Ist es das, was Hamburg ausmacht?

Lloyd Riggins: Ja, ganz klar. Hier geht es immer, in jedem Stück, darum, WEN ich auf der Bühne darstelle. Das ist es, was John Neumeier immer wieder fordert und aus uns herausholt. Bei einem Prinzen oder König geht es nicht um die Krone, sondern um die Persönlichkeit. Die Aurora in „Dornröschen“ ist ein freches, junges Mädchen, der große Pas de deux mit dem Prinzen ist Freude und Verliebtheit pur, das sind junge Menschen, das Leben! Bei „Romeo und Julia“ ist es ähnlich. Die Schwierigkeit für die jungen Tänzer besteht darin, diese Persönlichkeit in sich zu finden. Es heißt ja meistens nur: längere Beine, mehr Pirouetten, höhere Sprünge. Okay – aber das Schwierigere ist, die innere Stimme zu hören, die uns daran erinnert, wer wir sind, warum wir auf der Bühne tanzen. Darauf achten alle hier in Hamburg besonders und besonders konsequent.

Auch Balanchine ging es nicht nur um Bewegung und Körper. Ihm ging es um die Musik in uns, die Musik, die wir in uns haben – jeder. Wir brauchen Lehrer, die das verstehen, die das unterrichten können. Zählen kann man schnell lernen. Aber dieses Innere zu finden, das ist ein langer Prozess. Wenn die Tänzer heute aus der Schule kommen, sind sie ziemlich schnell gezwungen, erwachsen zu werden. In der Schule hieß es immer: tu das, mach jenes, bewege dich so oder anders. Und wenn sie dann in die Kompanie kommen, müssen sie sich sehr schnell bewähren – in dieser Zeit kann man sie gewinnen oder verlieren.

Was meinen Sie damit?

Lloyd Riggins: Das Wichtigste ist, dass sie verstehen: Warum bin ich hier? Und was ist die Geschichte, die ich auf der Bühne erzählen soll? Entweder lernen sie es, ihre Persönlichkeit zu finden und sich Zeit dabei zu lassen – oder eben nicht. Die Stimmen, die sich dafür einsetzen, dass da Menschen auf der Bühne sind, Individuen, Persönlichkeiten, diese Stimmen werden immer spärlicher. Es gibt immer mehr laute Stimmen darum herum, die sie übertönen. Mir kommt es darauf an, diesen leiseren Stimmen wieder mehr Gehör zu verschaffen.

Wie wollen Sie das erreichen? 

Lloyd Riggins: Beim Königlich Dänischen Ballett in Kopenhagen mussten sich die Schüler und Eleven früher rückwärts an die Wand drücken und Platz machen, wenn ein Mitglied der Kompanie vorbeikam. Aus Respekt. Das ist natürlich altmodisch, das würden wir heute so nicht machen. Aber die Idee, dass die Jungen den älteren und professionellen Tänzern den Respekt erweisen, ist nicht schlecht. Es geht um den Respekt vor deren Leistung und ihrer Position als Tänzer. Das prägt fürs Leben. Viele denken heute, wenn sie aus der Schule kommen, haben sie ausgelernt, jetzt müssten sie nur noch tanzen. Falsch! Dann fangen sie erst an, richtig zu lernen. Balanchine sagte immer sinngemäß: „Du hast die Schule hinter dir, jetzt wirst du lernen, ein Tänzer zu werden. Du weißt, wie man die Schritte setzt, jetzt lehre ich dich zu tanzen.“ Wenn man so angeleitet wird, entwickelt man ganz von selbst eine innere Bescheidenheit gegenüber dieser Arbeit, da weiß man, dass man alles noch zu lernen hat, alles! Und man denkt nicht, dass man nur auf die Gelegenheit warten muss zu tanzen. Die Frage, mit der man jeden Morgen aufwachen sollte, heißt: Was werde ich an diesem Tag lernen? An dieser Haltung mangelt es häufig.

Wer hat Sie das gelehrt?

Lloyd Riggins: Normalerweise lernt man in der Schule, wie man lernt. Ich bin in der Mitte von Florida aufgewachsen, da gab es keine professionelle Ballettschule. Wir nahmen, was wir bekommen konnten – alles. Meine Mutter, die die Kompanie dort geleitet hat, zeigt mir, wie man lernt: Große Augen, große Ohren, großes Herz. Halt die Klappe, schau und höre, höre, höre. Du hast ein großes Herz – du liebst diese Arbeit, du willst tanzen. Wie machst du das? Mach den Mund zu und alle anderen Sinne auf. Das ist es. Ich möchte selbst Lehrer sein, weil ich das Glück hatte, einige wirklich große Lehrer gehabt zu haben, auch später in Kopenhagen. Und hier in Hamburg. Ich weiß ganz genau, dass ich alles, was ich bin, ihnen verdanke. Und ich möchte weitergeben, was sie mich gelehrt haben.
 

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