Lauschen ins Innere

Tarek Assams „Clandestino“

Gießen, 17/10/2009

Der Song „Clandestino“ (1998) gab dem neuen Tanzstück von Tarek Assam Titel und Inspiration. Manu Chao, der in Frankreich aufgewachsene Sänger spanischer Eltern, protestierte damit gegen politische Missstände, die Flüchtlingsströme aus den armen in die reichen Länder zur Folge haben. Clandestino bedeutet „heimlich“, im politischen Sinne auch „gesetzwidrig“. Um diese beiden Begriffe rankt sich das neue Tanzstück des Gießener Tanzdirektors – eine Collage, deren verbindende Elemente Musik und Bühnenbild sind. Die verschiedenen Aspekte geben die Kapitel vor: Heimliche Handlungen (Prostitution), Blicke, Kleidungsstücke und Gegenstände, nach der Pause sind es heimliche Menschen (Flüchtlinge), Gedanken und Glück/Unglück.

Zu den rhythmischen Songs von Manu Chao im französisch-spanischen Stil kommt Weltmusik des Amestoy Trios und Jazziges von Louis Sclavis. Insgesamt also ein angenehmer Klangteppich, der mit Reggae- und Salsa-Klängen zum Mitschwingen im Theatersessel verführt. Das ebenso einfache wie eindrucksvolle Bühnenbild von Annett Hunger (Berlin), die damit ihren Einstand am Gießener Stadttheater gibt, besteht aus Pappkarton-Arrangements, die allesamt an Bühnenzügen hängen und in verschiedenen Kombinationen auf- und niedergelassen werden. Ihre Kostüme sind ebenso unaufwendig: zwischen Streetwear und Sportdress angesiedelt setzen die Tanzenden damit behutsam farbige Akzente gegen das Pappkartonbraun.

Es ist ein gelungenes Ensemble-Stück, das meinte auch das begeistert applaudierende und laut jubelnde Publikum. Die vier Tänzerinnen (Antonia Heß, Svende Obrocki, Magdalena Stoyanova, Morgane De Toeuf) und drei Tänzer (Eoin Mac Donncha, Meindert Peters, Victor Villarreal Solis) agieren gleichberechtigt: mit einer Ruhe und Vertrautheit, mit filigraner Leichtigkeit und verblüffender Schnelligkeit, die auf ein gewachsenes, einander vertrauendes Team schließen lassen. Für das Kapitel „Heimliche Gegenstände“ hatten die Tanzenden bei den Proben eigene Dinge mitgebracht, die für sie von persönlicher und vor anderen versteckt gehaltner Bedeutung sind, auf der Bühne stellen sie solche Objekte in ihrer je individuellen Bewegungsweise vor. Es gibt ernste und traurige Momente, in denen Liebe und Gewalt oder drangvolle Enge im Versteck der Flüchtlinge gezeigt werden.

Es gibt fröhliche Szenen, in denen heftig geflirtet oder die neuen Pässe freudig begrüßt werden. Auf lebhafte Gruppenszenen folgen anrührende Liebesduette oder ausdrucksstarke Soli. Alles in allem ist es ein steter Wechsel, der das ganze Stück ausgesprochen kurzweilig macht. Die Körper schwingen im Rhythmus der Musik, sogar geschmeidige Beckenbewegungen sind dabei. Mal ist der Tanz so filigran-komplex wie die Musik, ein anderes Mal so geometrisch-klar wie das Bühnenbild. Trotz der vielen Szenenwechsel und schnellen Körperbewegungen gelingt Tarek Assam das Kunststück, den nötigen Raum zur Entfaltung zu schaffen. Es wird nie hektisch, so dass auch Zuschauende bei allem Anregenden genussvolle Ruhe empfinden und ihren Assoziationen freien Lauf lassen können. Es gibt Momente, in denen die Tänzer in ihr Inneres zu lauschen scheinen und wie gebannt im Raum stehen. Es gibt sogar einen Moment, in dem nur die Pappkartons zur Musik tanzen. Es ist eine Choreografie, deren Inhalt jeden angeht und jeden berühren kann, ausgeführt von einem engagierten Ensemble in Bestform.

www.stadttheater-giessen.de

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