Kein Aprilscherz

Reid Anderson zum 60. Geburtstag

oe
Stuttgart, 31/03/2009

Er kam 1969 in diese Stadt, ein noch nicht einmal zwanzigjähriger Schlacks aus Kanada, der gerade seine Tänzerausbildung abgeschlossen hatte. Heute am 1.4. wird er sechzig Jahre alt, ist aus dem Gruppentänzer von einst eine der profiliertesten Persönlichkeiten des Weltballetts geworden – ein Stuttgarter, der mit einem relativ kurzen Intermezzo rund die Hälfte seines Lebens in der württembergischen Kapitale verbracht hat. Das hat noch keiner seiner eminenten Vorgänger geschafft: kein Noverre, kein Taglioni, kein Beriozoff und auch kein Cranko (der in drei Monaten 82 geworden wäre). Unseren Glückwunsch! Aber sehen wir uns in der Welt von heute um! Als Ballettchef kann nur John Neumeier mit ihm in Hamburg konkurrieren – der bringt es in der Hansestadt als Leiter der Kompanie auf inzwischen 32 Jahre (nachdem er seine Tänzerkarriere als Einundzwanzigjähriger in Stuttgart begonnen hatte). Die meisten anderen der großen Sechs aus Paris, London, Moskau, St. Petersburg, Kopenhagen und New York blicken auf einen deutlich kürzeren Zeitraum als Direktoren zurück. Glückliches Stuttgart, das seinen Ballettmann so lange in seinen Mauern halten konnte – denn an Angeboten, in eine andere, womöglich attraktivere Stadt als Stuttgart (soll es ja geben) zu wechseln, hat es Anderson nicht gefehlt.

Und er hat es geschafft, das schwierige Cranko-Erbe zu wahren und zu mehren – und dabei das Profil des Stuttgarter Balletts als Kompanie mit den meisten Uraufführungen zu schärfen. Über sechzig sind es inzwischen, eine für jedes seiner Lebensjahre, das soll ihm eine seiner Kolleginnen oder Kollegen erst einmal nachmachen. Natürlich waren nicht alle davon Meisterwerke: aber der Vergleich zum Beispiel mit Paris, London und New York kann sich sehen lassen (zu Berlin und zum armen Wien sowieso). Und er hat zwei Hauschoreografen entdeckt, die gern in Stuttgart arbeiten und heute international gefragt sind (Berlin und München haben nicht mal einen einzigen aufzuweisen).
Und er hat es geschafft, das Publikum bei der Stange zu halten – die Stuttgarter lieben inzwischen IHR Ballett (man lese bei Walter Erich Schäfer nach, was sie zur Zeit seines Direktionsantritts vom Ballett hielten), wie die Tänzer aus der ganzen Welt sich darum reißen, nach Stuttgart engagiert zu werden (der fabelhaften Rollen wegen, die dort auf sie warten). Und er hat die Kompanie so verjüngt – was nicht ganz ohne Schmerzen für die altgedienten Tänzer vor sich gegangen ist, von denen wir gern ein paar noch weitere Jahre in Stuttgart gesehen hätten –, dass sie heute auch in schwierigen und empfindlichen Balletten Schlange stehen (Robbins „Dances at a Gathering“), um als Alternativbesetzungen zu debütieren.

Natürlich haben wir alle unsere persönlichen Vorlieben. Ich zum Beispiel wünschte mir eine etwas klassischere Ausrichtung des Repertoires und vermisse eine Ballerina vom Format Polina Semionovas (sie an der Seite unseres heutigen Weltstars Friedemann Vogel: ganz Stuttgart schwämme im Glück!). Wie ich mir einen der ja existierenden jüngeren klassischen Choreografen à la Martin Schläpfer, Christopher Wheeldon, Peter Quanz oder Terence Kohler gut zur Ergänzung des Repertoires vorstellen könnte. Aber vielleicht schafft es Anderson ja, bis zu seinem 70. Geburtstag einen von ihnen nach Stuttgart zu locken. Noch etwas früher wünschten wir uns freilich die Etablierung einer gut ausgestatteten Cranko-Stiftung gerade in der heutigen kritischen Finanzsituation. An Mitteln dürfte es ihr ja bei den in über dreißig Jahren seit Crankos Tod eingegangenen Tantiemen für seine in aller Welt gespielten Ballettes nicht fehlen!

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