Europapremiere in Münsters Pumpenhaus

Samir Akikas venezolanische „Plastikseele“

Münster, 24/10/2009

Ein Stück über das Öl- und Plastikland Venezuela, eine Geschichte von der Wegwerfgesellschaft und dem Ewig-Jung-Sein-Wollen-Wahn dank Silikon, von diesem „viel zu arm“ und „viel zu reich“ zwischen Elendsvierteln und mondänen Wolkenkratzern in Caracas hatte man sich in Venezuela von Samir Akika gewünscht. Das Goethe-Institut in Caracas lud den wahldeutschen Algerier ein. Der Tanz-„Maker“ sah sich dort um und fand in dem Ghetto des Hauptstadt-Vororts Barrio sein „Material“ – die Nische abseits des pulsierenden Lebens, die Realität der Menschen, die „da unten“ auch ein bisschen leben und träumen. Ganz schön bunt, schrill, witzig, poetisch und zärtlich ist sein Porträt von Venezuela geworden, noch ein bisschen unfertig bei der Europa-Premiere in Münsters Pumpenhaus gestern Abend freilich.

Aber in den letzten, dichtesten Szenen war der Funke längst übergesprungen von den Tänzern auf das Publikum – das half den sympathisch-dynamischen jungen Artisten. Billige Plakate flankieren die Spielfläche: „Perfecto“ steht links drauf, „Friends for ever“ rechts. Ein Kronleuchter aus leeren Plastikflaschen und weißen Lichterketten baumelt von der Decke, ein Flachbildschirm daneben. Durch die halbrunden Sprossenfenster in der nackten, rückwärtigen Backsteinmauer fällt Licht von der Straße, wo Autos durch die Nacht sausen. Das gibt der Szene auf der eigentlich viel zu kleinen Bühne Weite und eine fantastisch authentisch lebensnahe Atmosphäre. Erst allmählich schleichen Gestalten auf die halbdunkle Fläche. Hinterhof-Flair wird allmählich erkennbar – schmuddelig, vermüllt, einsam. Wir befinden uns am A... der Welt.

Nach und nach erwacht zu zarter Gitarrenmusik das trostlose Stillleben. Die pummelige Frau fällt krachend von der Parkbank, auf der sie zu schlafen versuchte, den Kopf auf die blaue Plastiktasche mit all ihrem Hab und Gut gepresst. Ein Breakdancer der drei „Speedy Angels“ tanzt behende und lautlos wie ein geschmeidiges Raubtier, wie auf einem unsichtbaren Seil. Ein Mädchen tritt an eins der Mikrofone, erzählt auf Spanisch von ihren Vorlieben und Gefühlen: „..... Ich möchte gern über mich selbst lachen, aber meist weine ich oder lache nur unter Tränen“. Die Frau von der Parkbank führt das große Wort. Als dynamische Managerin ins hautenge kleine Schwarze gepresst dankt sie allen Sponsoren dieses Projekts (von Ikea bis zum Goethe-Institut Caracas und dem Pumpenhaus-Geschäftsführer). Ordinär, pink-platinblond aufgetakelt lässt sie sich Brüste und Po mit dicken Plastikrundungen aufmotzen und beteuert: „Ich habe Plastik im Körper, aber meine Seele ist noch echt“. So steigert sich diese vielsprachen- und grimassen-gewandte Verwandlungskünstlerin von Szene zu Szene – und ebenso wächst, erblüht, glüht das Ensemble der drei Break-Dancer und drei Tänzerinnen. Alle geben ein Stück ihres Innenlebens in diesem Slum preis. Die deutsche Übersetzung wirft ein Projektor aus einem Einkaufswagen an die Mauer (schwer zu entziffern, weil der Kronleuchter im Weg ist). Der zwölfjährige junior B-Boy hält als Hip-Hopper gut mit, erstaunlich gut sogar als Darsteller. Die drei Tänzerinnen geben sich ganz schön zickig, wenn's darum geht, wer die nächste Miss Universe wird (Venezuela stellte deren sieben bisher). Eine „Madonna“ wird liebevoll für die Prozession zu Ehren von „Sankt Plastik“ mit allerlei buntem Fummel geschmückt.... Später huldigen die vier Frauen grunzend Sankt Schwein. Im Finale gibt’s noch einen flotten Vier-Damen-Cancan. Eine schaukelt sich dann in riesiger Plastiktüte. Madame hüpft splitternackt mit wehender Plastikplane durch den Raum. Zwei Breaker haben sich ihre Top-Nummern – Pirouetten in atemraubendem Tempo auf dem Rücken, feinstes Tänzeln und eleganteste Gesten-Malerei – bis jetzt aufgespart. Vergessen sind Lethargie und Tristesse der anfänglichen Szene. Nein, Plastikseelen haben diese Menschen aus dem Ghetto von Caracas keineswegs.

Wer die Musikcollage aus Disco-Wummern, Latino-Songs und zartem Gitarrenzirpen arrangiert hat, ist aus dem Programmzettel nicht zu erfahren. Dass Akika höchstpersönlich sich zwischendurch auch mal unters Bühnenvolk mischt, ist reizvoll – der andere Herr wird nirgendwo identifiziert. Dass ein Psychologe über Land und Leute gar so ausführlich von der Videowand herab doziert, nervt mitunter. Dass das ganze fast 100-minütige Venezuela-Konterfei noch Work in progress ist, ist unübersehbar. Sei's drum. Zum frenetischen Premierenapplaus im ausverkauften Pumpenhaus zogen die Jungs auch zwei kleine Mädchen (kleine Schwestern?) aus der ersten Reihe auf die Spielfläche, und alle trotteten in die Katakomben wie eine vagabundierende Zirkustruppe....

Weitere Aufführungen in Münster noch heute und morgen, 24. und 25. 10. 2009

www.pumpenhaus.de

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