Angstschreie geschundener Körper
Alain Platels „Pitié“ seziert im Hebbel am Ufer unsere Welt
"pitié!" von Alain Platel untersucht psychische Vorgänge um Todesbereitschaft, Liebe, Schuld-Eingeständnis
Es war das Wiener Ensemble netzzeit, das Alain Platels Mozart-Beitrag „Wolf“ vor einigen Jahren in die Halle E holte. In dieser Produktion, die sehr erfolgreich auch an der Pariser Oper lief, gab Platel sein unmissverständliches Bekenntnis zum fehlerhaften Menschen ab. Nur durch das Bloßlegen all seiner Störungen mag man etwas von dieser Spezies Mensch verstehen. Nach seiner Bearbeitung der Monteverdischen „Marienvesper“ hat sich Platel nun mit einem fehlenden Aspekt in der Bach‛schen „Matthäus-Passion“ auseinandergesetzt. Warum leidet die Gottesmutter nicht an der Opferung ihres Sohnes? Davon ausgehend untersucht der Regisseur in der zweistündigen Inszenierung „pitié!“, die nun in der Halle E (MQ) Station machte, psychische Vorgänge um Todesbereitschaft, Liebe, Schuld-Eingeständnis. Das präzis kalkulierte, dramaturgisch ausgetüftelte Gesamtkunstwerk aus neuer, mit jazzigen Anklängen komponierter Live-Musik von Fabrizio Cassol, besticht vor allem wegen des szenischen Aufeinanderprallens von reflektiertem Wohlklang (eindrucksvoll auch die Sänger) und „hysterischem“ Tanz. Von intellektueller Abstraktion kontra „ungezogener“ physischer Entladung. Was Pina Bausch einst mit symbolhaften Bildern inszenierte, holt Platel mit seinen in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Tänzer-Darstellern scheinbar brutal an die unkontrollierbare, zuckende Kunst-Oberfläche: Die Entäußerung des Leiblich-Seelischen in einem „fantastischen“ Körperbild, das an Bilder eines Hieronymus Bosch erinnert. „pitié!“ ist sicher eines der schwärzesten Werke von Platel, das den Zuschauer nachdenklich zurücklässt.
Mit freundlicher Genehmigung des Kurier
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