Überwältigende Bilder fragmentierter Beziehungen

In der HALLE lässt Toula Limnaios bei „reading tosca“ Oper und Tanz aufeinander treffen

Berlin, 14/06/2008

Das Projekt ist so ungewohnt wie mutig: Der zeitgenössische Tanz lädt Puccinis freiheitsselige Oper „Tosca“ in sein Revier. Dass es nicht um tänzerische Illustration des Originals geht, dafür steht Toula Limnaios, eine der kreativsten Berliner Choreografinnen. Die zierliche Griechin mit dem seit über einem Jahrzehnt unerschöpften Kraftkontinuum interessieren bei ihrer im Auftrag der Bregenzer Festspiele entstandenen Uraufführung nicht die einzelnen Handlungsstränge, wohl aber die Gefühlspegel und Verstrickungen der Protagonisten, ohne dass ihnen Tänzer klar zugeordnet wären. Auch die Musik zu „reading tosca“ läuft in einer Bearbeitung, wie Ralf R. Ollertz sie aus einem Festspielmitschnitt verfremdend und durch elektronische Einschübe gefügt hat.

In Slip respektive Bikini verharren die Akteure - vier Frauen, drei Männer - inmitten einer Landschaft aus Kleidung, Pumps, Holzstangen. Dräuende Zitate der Ouvertüre schweben in Endlosschleife über ihnen, immer wieder sinken die Tänzer wie unter einer Last zu Boden. Hinter einer Folie vor der Rückwand der HALLE deponieren sie die Utensilien, ziehen sich um, nehmen das Spiel auf. Derweil sich der Klang angstvoll ballt, steigern sich die Gänge der Tänzer mit Blick zur Folie, die auch Kirchenlettner oder Theatervorhang sein könnte, in helle Aufregung. Eine Frau wird von ihrem Partner drangsaliert, eine andere bäumt sich unter Hammerschlägen auf eine metallene Partitur. Ohne direkte Korrespondenz zum Schmelz der Arienschnipsel mit ihren teils sich überlagernden Stimmen zeigt Limnaios Zustände auf. Frauen werden deformiert, durch eine Zerrfolie beobachtet, pressen sich zum Doppelwesen in ein Kleid. Oft hüllt Dampf die Geschlechterkämpfe ein, gruppieren sich Männer gegen Frauen. Unter den peitschend schwingenden Stöcken ihrer Partner ducken sich die Frauen.

Zentrales Requisit bleibt ein glutrotes Samtkleid, Symbol für Schönheit, Liebe, Blut, von bühnenfüllendem Ausmaß. Dorthinein schlüpfen die Akteure, lösen einander ab, drapieren den Stoff zum Schmetterling, aus dessen Flügeln bewegte Beine ragen. Zu „Vissi d’arte“, Toscas Hauptarie, drückt ein Mann den Frauen seinen tragbaren Lautsprecher in den Leib, schleppt nach rüden Nackenführungen eine Partnerin über Kopf auf dem Rücken wie tot ab - und wird von ihr aufs Kreuz geworfen.

Unentschieden tobt der Kampf weiter. Eine Frau mit aufgeschnallten Weinkelchen tanzt Zerbrechlichkeit, meint auch die Brüchigkeit der Situation. Einer anderen malt man fast nackt die Rippen nach wie zum Skelett. Limnaios gelingen eindringliche Bilder von ebenjener Fragilität aller Beziehungen, für die die Gestalten um Tosca nur exemplarisch stehen. Das berückendste findet sie zum Schluss: Eine Frau befreit sich aus der Männerbedrängnis, ragt bald einsam aus ihren roten Stofffluten empor, wird gehoben, stürzt ins Unsichtbare nach hinten. Parallel zum Solo in der Weite des Kleides lief als Kontrapunkt und zur Visualisierung ihrer Gefühle ein brillantes, sportiv gewagtes Kampfduett. Es ist, neben den Bildlösungen und dem vorzüglichen Tänzerseptett, jenes typische Bewegungsgespür zwischen Akrobatik und Skurrilität, das „reading tosca“ wieder zu einem Stück von Format macht.


Wieder 13.-15., 19.-22., 26.-28.06., Infos unter www.halle-tanz-berlin.de

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