Sehnsucht nach Lebendigsein

„the silencers“ – Uraufführung der cie. toula limnaios in der HALLE Tanzbühne Berlin

Berlin, 25/11/2008

Als Zuschauer betritt man die Halle in der Eberswalderstraße seitlich über einen Lichtpfad im Hof. Der Abendhimmel liegt über den hohen Häuserfronten wie auf den Bildern von Konrad Knebel. Wenn die Tür sich öffnet, platziert sich das Publikum zu beiden Seiten einer durch hohe Gaze geteilten Spielfläche. Ein tiefes lautes Dröhnen erfüllt die Dunkelheit. Abrupt bricht es ab und in der Stille beginnen sich einzelne Menschen im Lichtkreis einer Taschenlampe zu bewegen. Diffus outen sich zu beiden Seiten je zwei Frauen und ein Mann. Doch in den folgenden siebzig Minuten kann der Blick des Betrachters nie alle sechs Protagonisten zugleich erfassen. Ganz langsam entwickelt sich ein vielfaches Puzzle von Endzeit-Zuständen und frustrierenden Begegnungen von Mann und Frau, die jeweils in den Aktionen der hinter der Lichtwand Agierenden assoziativ erweitert werden. Die Zweiteilung des Aktionsraumes erzeugt seitenverkehrte Spiegelungen, zeitversetzte Echos und zugleich autonome Aktionen. Die dunkle Klangcollage von Ralf R. Ollertz gibt dem Alb-Traum spannungsvolle Kontur. Wenn der Komponist live trommelnd das Solo eines Mannes voran zu treiben sucht und der ostinate Rhythmus zeitversetzt im Raum schwingt, verharrt der Mann wie festgefroren fast am Platz.

Toula Limnaios unternimmt mit ihrer hochmotivierten und teils neu formierten Kompanie in „the silencers“ eine Reise in die Abgründe des Seins. Eine tänzerische Selbstbefragung, beklemmend beleuchtet im Lichtdesign von Klaus Dust. Schicht für Schicht tasten, rufen, suchen Menschen verzweifelt das andere Leben im eigenen. Der Zuschauer wird zum Beobachter menschlicher Urängste vor sich Selbst. Ein traumatisches Agieren atomisierter Existenzen, die Kleider und Partner wechseln, die voller Energie um sich selbst kreisen, die sich selbst fremd geworden sind und zugleich das eigene Spiegelbild mit gereckten Armen ertasten wollen. Verstopfte Münder. Im erschrockenen Wimmern erstickt ein Walzermotiv. Ein Paar (Mercedes del Rosario Appugliese, Roberto Zuniga Fallas neu im Ensemble) im apokalyptischen Endzeitduett in frappierender Synchronität, affenähnlich hockend mit zuckenden Bewegungen und Händen, die immer wieder die Augen bedecken. Faszinierend bis in die kleinsten Regungen der Finger die Studie einer mehrfach gebrochenen Frau im raschelnden Mantel überm Cocktailkleid, die in der intensiven Interpretation durch Fleur Conlon (neu im Ensemble) auf hochhackigen Schuhen die waghalsigsten Arabesquen probiert, doch nicht von der Stelle kommt. Ein schöner Vogel, flugunfähig.

Toula Limnaios choreografiert und inszeniert in der schreienden Stille die Einsamkeit, die Verlorenheit, die Erstarrung in den Ritualen des Gewöhnlichen. Ein dumpf erahnbares Gefühl der Leblosigkeit, doppelt beklemmend durch die Schönheit, Expressivität und Jugend der Interpreten. Wie ein Gedicht Zeile für Zeile und Wort für Wort die Bedeutungen modelliert, so gibt das Trio hinter der Wand (Ute Pliestermann, Kayoko Minami und Hironori Sugata) dem Geschehen neue Sichten.

Mehrfach ertönt das „Hallo? Hallo?“ einer Telefonstimme. Ein Mann klammert sich an eine auf dem Kopf stehende Frau (und umgekehrt), doch zwischen den nackten Schenkeln steht die Welt weiter auf dem Kopf. Wo ist das Leben geblieben? Stimmen aus dem Megaphon. In einer Endlosschleife dockt eine Frau ihren Körper an einen Staubsaugerschlauch. Im finalen Black verlischt das Bild von Tod, Zivilisationsmüll und Sehnsucht nach Lebendigsein.

 

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