Schwanensee als schrille Laufsteg-VIP-Party

In Regensburg überzeugt Olaf Schmidts Inszenierung

Regensburg, 10/03/2008

Mythos „Schwanensee“. Auch Olaf Schmidt, derzeit Ballettdirektor am Regensburger Stadttheater, hat sich in dieser Spielzeit eine Neuinszenierung des Spitzentanz-Klassikers vorgenommen und mit dieser – es sei gleich vorab gesagt – sein Premierenpublikum in Euphorie versetzt. Was hat der 44-Jährige, der 1998 „zum falschen Zeitpunkt am richtigen Ort“, nämlich am Badischen Staatstheater in Karlsruhe, kurzzeitig als Chef engagiert war und davor viele Jahre am Pfalztheater Kaiserslautern wirkte, gut zweieinhalb Stunden lang zur kaum gekürzt gespielten Partitur Tschaikowskys geboten?

Sicher, für den einen oder anderen im Parkett lag es an der temporeich vorgetragenen Bewegungssprache, die Schmidt den zwölf Tänzerinnen und Tänzern seines Ensembles verordnet hatte. Schmidt choreografiert im bekannten neoklassischen Stil, zunehmend stärker aus der Musik heraus, produziert mit einer Vielzahl von Arabesquen, Attitüden, Pirouetten, Promenaden und drei, vier hervorstechenden Hebungen lange schöne Linien und bricht oder lenkt den Bewegungsfluss dort mittels Bodensequenzen modern um, wo er es erzählerisch braucht. Fragmente typischer Variationen, wie man sie aus traditionellen „Schwanensee“-Fassungen kennt, blinken dazwischen auf, das war´s. Darüber hinaus aber hat Schmidt mit seinem – in seinem Künstlerleben insgesamt dritten (!) - „Schwanensee“ erneut bewiesen, dass er zu den tiefsinnigsten und spannendsten Tanzerzählern gehört, die es derzeit gibt.

Es ist fast wie bei „Schneewittchen“. Hinter den Bergen, bei den sieben Oberpfälzer Zwergen überzeugt ein Choreograf (an seiner Seite: Ballettdramaturgin Christina Schmidt) durch gutes Gespür für Timing, psychologische Tiefe, dramaturgisch konsequente Feinarbeit, inszenatorischen Witz und den Mut, genau hinzuschauen. Schmidt hat „Schwanensee“ einmal auseinander genommen, das Herz des wundersamen Stoffes frei gelegt und, ohne nur einmal zu zögern, auf heutige gesellschaftliche Wirklichkeiten projiziert: auf die in TV und Medien abgebildete, narzisstische Parallelwelt der Schönen und der Reichen einerseits, auf brutale Menschenhändler, wie sie im Rotlicht-Milieu existieren, andererseits. Superb daran: Er hat den Mythos „Schwanensee“ nicht zerstört, sondern als Bilderfolge über Jugend an der Schwelle zum Erwachsenwerden zu sich selbst zurückgeführt.

Und nicht nur das. Schmidt setzt seinen „Schwanensee“ als selbstreferentielles System über Ballett in Gang, das den Einzelnen unfrei hält. Das Tütü, Inbegriff der Kunst im Spitzenschuh und Inhalt jugendlicher Sehnsuchtsträume, verkehrt sich bei ihm zum Symbol für Gewalt an der Frau. Wenn die Damen des Ensembles in Corsagen über nackten Beinen auf der Bühne stehen, zwei Matratzen liegen herum, und Rothbart (Fabrice Jucquois) als schwarz gekleideter Macho auftritt, der sie immer wieder ins Tütü zwingt, geht das unter die Haut. Ebenso das faszinierende Vexierspiel im dritten Akt: Rothbart führt während der als witziges Model-Casting inszenierten Brautschau eine dunkle Schönheit in Hut und Mantel (Sandrine Cassini) ein, die später, im weißen Tütü, den verliebten Prinz täuscht, während die, die Siegfried eigentlich wollte (Sara Leimgruber), im schwarzen Tütü die 32 Fouettés drehen muss. Psychologische Dreh- und Angelpunkte der sagenhaften Inszenierung sind Siegfried und sein Ablösungsprozess von der Mutter.

Die Machart, mit den beiden Figuren umzugehen, gelingt bis zum Schluss. Schmidt spaltet sie auf sechs Tänzer und drei Tänzerinnen auf, um auf diese Weise verschiedene emotionale Schichten und Persönlichkeitsanteile frei legen zu können. Wie ein Jongleur mal einen oder mehrere Bälle gleichzeitig in die Höhe wirft, lässt Schmidt mal einen Tänzer, mal mehrere in derselben Rolle die Szene betreten und im komplexen Beziehungsgeflecht agieren. Siegfried selbst erkennt Schmidt als saturierten Sohn eines wohlhabenden ehemaligen und allein erziehenden Supermodels, dem nichts Besseres einfällt als ihm zum 18. Geburtstag erneut was Teures zu schenken. Gewohnt wird im Loft (Bühne: Manuela Müller), in dem hoch an der Wand ein riesiger Flachbildschirm hängt, auf dem sich die Oberfläche eines Sees kräuselt. Dort gerät die Geburtstagsparty am Anfang zur schrillen Laufsteg-VIP-Party, wo man, unter sich, schnupft, was das Zeug hält, um in Stimmung zu bleiben. Innerlich unreif und undefiniert, kaum zuvor gefordert, sich mit der Außenwelt auseinanderzusetzen, schlittert der Krösus durch einen verwirrenden Kosmos eigener Bedürfnisse und verschiedener Liebesmodelle – käufliche Liebe, echte Liebe, zarte Liebe, brutale Liebe, ausnutzende Liebe und kumpelhafte Liebe.

Am Ende ist alles indifferent, vermischt, Frauen tragen Siegfrieds Hosen, die Männer Tütüs, oder alle tragen alles. Schlussendlich ziehen ein Tänzer und eine Tänzerin ihre Tütüs aus und schreiten Hand in Hand von der Bühne. Eine reale Utopie, wie man sie an jeder Bushaltestelle sehen kann.

 

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