„Romeo und Julia“

Den Panzer der Gefühlskälte sprengen

Nordhausen, 28/10/2008

Die ausverkaufte Ballett-Eröffnungspremiere dieser Spielzeit „Romeo und Julia“ in der Choreografie des 34-jährigen Leipziger Tänzers und Choreografen Steffen Fuchs am Theater Nordhausen gestaltete sich am 24. Oktober 2008 zu einem stark akklamierten Erfolg. Damit wurde zugleich eine Inszenierungsleistung belohnt, die auf der vierjährigen künstlerischen Arbeit von Ballettchefin Jutta Wörne fußt, die in einem produktiven Klima für ihr junges Ensemble von sechs Tänzerinnen und sechs Tänzern immer neue Herausforderungen wagt und auch das Risiko nicht scheut, einen jungen Choreografen erstmals mit einer großen abendfüllenden Inszenierung zu betrauen.

Steffen Fuchs (nach erfolgreichem Diplom derzeit im Masterstudium an der Palucca Hochschule) hat die Gelegenheit mutig beim Schopf gegriffen und den tradierten Stoff mit heutigem Blick fokussiert. Sein Konzept basiert nicht auf dem Konflikt verfeindeter Adelshäusern mit handfesten ökonomischen Interessen, sondern erzählt von Geschlechterkämpfen, die jede echte Gefühlsregung ersticken. Handlung und Protagonisten werden teils umgedeutet. Prokofjews programmatische Komposition wird gekürzt und in einigen Passagen mit anderen inhaltlichen Vorgängen in Beziehung gesetzt. Das irritiert anfangs mindert aber nicht das Interesse am Fortgang des Geschehens. Die Capulets sind ein Amazonenclan von Frauen, mit Lady Capulet als Anführerin, Julia als deren Favoritin und einer jungen Wärterin. Mercutio, Romeo, Tybalt und Paris sind Teil der männlichen Montagues-Krieger. Doch der Krieg findet hier nicht mit Waffen, sondern in Form ritualisierter Attacken der beiderseits bestens gewappneten Geschlechter statt.

Weiße Tauben aus Papier schweben eingangs vor einer durchlöcherten Wand, Sinnbild für Begrenzung und Freiheit. Frauen in Spitzenschuhen und Männer kämpfen mit schützendem Kopfvisier. Florett-Fechter in silberweißen Anzügen. Messerscharf zelebrieren Arme und Beine exakte Bewegungsmuster, durchschneiden versetzt choreografierte Kampfpaare den Raum bis alle (zu den Feuerglocken) am Boden liegen. Die Tauben, längst aufgescheut, werden nicht zurückkommen. Lady Capulet führt Tybalt (musikalisch: B-Thema „Porträt Julia das Mädchen“) als Lover Julias in den Kreis der kriegerischen Amazonen. Julia, streng frisiert und äußerlich den anderen Frauen gleich, lässt den aufgeblasenen Kerl abblitzen. Ein Männersextett absolviert unisono eine dreh- und sprungstarke Gruppenvariation und empfängt die zum Fest einmarschierenden Damen. Die Bewegungssprache führt elegant selbstverliebte Zombies in großen Ballett-Posen vor, deren Hohlheit immer stärker an Deutlichkeit gewinnt.

Julia, hier keine „weiße Taube in einem Haufen voller Krähen“(Shakespeare/Prokofjew), brilliert als gefühllos kalte Schönheit mit wohleingeübten klassischen Pas und Extras auf Spitze. Routiniert tanzt sie mit Tybalt im Halbkreis der Gaffer die antrainierten Bewegungstricks. Sie wird gedreht, gehoben, posiert mit unbeweglichem Gesicht. Als Zuschauer wehrt man sich innerlich gegen so ein kaltes Biest. Doch als Julia plötzlich vor einem Mann am Ende des Halbkreises steht, verharrt sie irritiert mit belebtem Blick. Das Geschehen nimmt eine neue Wendung (und ich beginne, mich gleichfalls für diese Frau zu interessieren). Männer verbünden sich sofort gegen den Neu-Erwählten, die Lady drängt Julia in den Kreis der Frauengruppe zurück. Mercutio provoziert mehrfach den blasierten Tybalt. Frauen und Männer streben im Patt auseinander.

Die nachfolgende Balkon-Szene markiert eine beeindruckende Zäsur: Den Einbruch der Gefühle in eine Welt aus Eis. Kathrin Weiss und Pál Szepesi sind ein Glücksfall für die Titelrollen. Wie fremde Wesen treffen Mann und Frau aufeinander. Gegen die Glut der musikalischen Emphase setzten beide zunächst die leitmotivisch zitierte Abwehrhaltung sich belauernder Fechter. Es ist Romeo, der seine starre Pose auflöst, die fremde Frau anschaut, sie sanft berührt. Julia, zunehmend irritiert und nach für sie neuen Bewegungen (Worten) suchend, legt ihren Panzer mehr und mehr ab. Er dreht sie ganz behutsam um sich auf Spitze und ihre Augen finden sich. Romeo und Julia entdecken einander in einer mutigen Ruhe, in der seelischen Stille, fern aller Kämpfe und hohlen Bewegungsfloskeln von Hass und schnellem Sex. Steffen Fuchs choreografiert die magische Verzauberung, die Macht des Gefühls mit Mut zur Langsamkeit. Wie das Paar sich, so beginnt man als Zuschauer das Paar zu lieben.

Manche Szenenwechsel, Auf- und Abtritte bleiben unscharf. Dass Julia völlig unvermittelt ihren Romeo in die Arme einer anderen Frau spielt, ist Romeo (wie mir als Zuschauerin) völlig unverständlich. Als Figur ist diese Wärterin (wie Mercutio, Tybalt, Paris) nicht eingeführt und szenisch entwickelt, sie bleibt trotz der tänzerischen Genauigkeit Caroline Barnards – konzeptionelle Behauptung. Diese Wärterin schiebt Romeo zu Pater Lorenzo (im Talar stehend vor einem leuchtenden Kreuz aus Leuchtstoffröhren). Er traut das Paar in völlig überflüssigen goldenen Hochzeitsmänteln, die die Liebenden nach dem Kurzritual ausziehen. Draußen eskaliert der Kampf zwischen Mercutio (Arkadiusz Glebocki) und Tybalt (András Virág). Romeo taumelt wie ein „Außerirdischer“ in diese Welt der aggressiven Zwietracht. Nach Mercutios Niederlage lässt Romeo seinen tierischen Instinkten freien Lauf. Er nimmt Tybalt in den Schwitzkasten und erwürgt ihn (Schläge). Lady Capulet malträtiert Romeo mit Füßen. Nur Julia tritt Romeo offensiv zur Seite.

Im „Abschied“, der einzigen Liebesnacht, ist der Zuschauer ganz bei den Liebenden. Wieder gelingt Fuchs in der Ruhe und Genauigkeit reduzierter Bewegungen ein emotionsgeladener tänzerischer Dialog. Julia, barfuss im fleischfarbenen Kleid und Romeo mit freiem Oberkörper tanzen schlafwandlerisch in einem Bewegungsfluss ruhiger, kleiner Schritte, Gesten, Berührungen des Haltens und Gehalten-Werdens miteinander. Wunderbar, wenn sich beide liebestrunken von den ,Bettkanten´ für Sekunden in die Augen schauen. Zwei Menschen sind in diesem Pas de deux auf dem Weg zu einander, auf dem Weg zu sich selbst. Lady Capulet zwingt Julia, unterstützt von der Wärterin, in eine neue Verbindung mit Paris. Julia flieht zu Lorenzo (Kristóf Czösz). Er hilft mit einer Art Schlaf-Amulett. Der Verzweifelten erscheint Romeo (szenisch leider nicht überhöht genug) visionär als weißer Fechter, der die Gesichtsmaske abnimmt und sich ihr im Kuss zuneigt. In dieser Liebesgewissheit legt Julia sich die Kette um. Aufgebahrt und von grellweißen Lichtsäulen flankiert liegt sie im Todesschlaf. Lady Capulet (Aleksandra Wojcik bis dahin von souverän aalglatter Kälte) taumelt erschüttert herein, versagt sich aber im letzten Moment einer liebevollen Berührung der Abtrünnigen. Stattdessen stiftet sie an Julias Grab ein neues Paar: Wärterin und Paris. Die Ordnung ist nicht bedroht, alles läuft weiter wie gehabt in den gefühlsarmen Clan-Welten. Romeo taumelt mit um den Körper geschlungenen Armen zur Geliebten. Atlantengleich (er)trägt er das Ende seines Traumes. Kein Sprung, keine Drehung. Sein Körper krümmt sich nach innen unter der Last des Schmerzes. Ein letzter Moment vereint das Paar – die erwachende Julia und den sterbenden Romeo - im Kuss. Romeo hat das vermeintliche Ende seiner Liebe das Herz gebrochen, Julia legt sich eng an ihn. Die Gruft umfängt jenes Bild von der visionären Liebe, das seit Jahrhunderten in der Realität scheitert.

Steffen Fuchs arbeitet in seinem ersten Handlungsballett konsequent inhaltlich mit dem klassischen Bewegungsmaterial, das er in einem ganz bestimmten Zusammenhang seiner Lesart auf beachtlichem Niveau interpretiert. Nur dadurch wird es plötzlich zum Ereignis, wenn seine Liebenden in freien Bewegungsfolgen zu leben beginnen. Das kleine Ensemble präsentiert sich sehr gleichmäßig, fit im Allegro und deutlich um ausdrucksvolles Zusammenspiel bemüht. Das tanzdarstellerische Potenzial wird sich in den nächsten Aufführungen in Nordhausen und Rudolstadt noch differenzieren. Kompliment für die kluge Einbeziehung der Statisterie. Das Bühnenbild von Ausstattungsleiter Wolfgang Kurima Rauschning betont das assoziativ Zeichenhafte der tänzerischen Vorgänge. Anja Schulz´ Kostümdramaturgie, mit Zitaten verschiedener Stilepochen, wirkt inhaltlich überzeugend in den Fechtanzügen und raffinierten Ballroben, macht aber einige Akteure nur unzureichend erkennbar. Das Loh-Orchester Sondershausen unter der Leitung des neuen balletterfahrenen GMD Markus L. Frank brachte Prokofjews Partitur (hier in der reduzierten Orchesterbearbeitung von John Longstaff) überaus nuancenreich und in dramatisch-lyrischer Korrespondenz zum Bühnengeschehen zum Klingen. Diese interessante Neuinterpretation von „Romeo und Julia“ lädt zur Diskussion ein.

 

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