Raus aus dem Blumentopf

Die 6. TanzArt ostwest am Gießener Stadttheater – eine Bilanz

Gießen, 14/05/2008

So viele waren noch nie gekommen zur viertägigen TanzArt ostwest: 20 Tanzensembles von Stadttheatern und freie Gruppen aus Europa boten an Pfingsten in Gießen ein weit gefächertes Programm. Es kommen in der Regel Solisten oder Duos, auch kleine Gruppen von 3-6 Tänzern und ein großes Ensemble, das Tanztheater aus Kielce/Polen. Auftrittsorte sind das historische Stadttheater für die Sonntagmorgen-Gala, die kleine Bühne des Theater im Löbershof (TiL) für die Abendveranstaltungen. Dazu kommt schon traditionsgemäß eine außerhalb liegende Spielstätte, die dieses Mal in einem Nebengebäude auf dem Gelände des alten Schlachthofs war, in deren Nähe die Gießener Tanzcompagnie ihre Probenräume hat. Dort schufen Damian Gmuer und Rita Aozane Bilibio, die bei Pina Bausch, Sasha Waltz und William Forsythe getanzt hat, ihre dritte gemeinsame Choreografie „Echo Effects“; es tanzten vier Mitglieder der Gießener Tanzcompagnie. Natürlich gehörten spielerisch-provokative Elemente dazu, wie der Beginn im Außenraum und der dosierte Besuchereinlass.

Entgegen sonstiger Gepflogenheit hatte der TanzArt-ostwest-Initiator und Gießener Tanzdirektor Tarek Assam den Samstagabend im TiL für ein einzelnes Ensemble freigehalten. Die Alpha Group aus Graz, bestehend aus Künstlern der Sparten Tanz, Musik und Video unter Leitung von Darrel Toulon, bot Tanz- und Videokunst auf hohem Niveau. „Time Extensions“ wird anfangs von Videoarbeiten (Herwig Baumgartner) dominiert, auf das die drei Tänzer und zwei Tänzerinnen ihre volle Aufmerksamkeit richten: Ihr Schattenwurf wird Teil der Lichtprojektion. In „Just Thirty Minutes“ beeindrucken Bilder der Schnelligkeit, Straßen oder Zahlenreihen rasen vor dem Auge, in die die Tänzer geradezu hineingesogen werden. Schöne Bilder, eine ansprechende Ästhetik, mit der unsere medial vermittelte Welt auch hinterfragt wird: Ist nur noch das lebenswert, über das die Medien berichten? Ein anderer Teil von „Time Extensions“ ist das berührende Duett von Michal Zabavik und Bostjan Invanjsic. Ohne Video, auf der Basis von atonaler Streichermusik treten zwei Männer in Dialog. Der Kontakt misslingt, Zurückweisung und seelische Verletzung sind die Folge. Dieses Duo war am Sonntag noch einmal auf der großen Bühne zu sehen, wo durch die akustisch-optische Distanz ein wesentlich besserer Eindruck entstand.

Die Sonntagmorgen-Gala im Stadttheater bot die Möglichkeit zum Vergleich des unterschiedlichen Umgangs mit einem Thema: das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Es bot sich an für eine Studie der körperbezogenen Gender-Theorie. Die ritualisierte Form der Liebe zwischen Mann und Frau im Tango zeigten die Koblenzer mit kühler Eleganz (drei Paare, Choreografie: Anthony Taylor). Die ersten Annäherungsversuche bei Jugendlichen setzte das Bohemia Balet aus Prag, bestehend aus Studierenden und Absolventen der angeschlossenen Akademie, auf jugendlich-heitere Art um (11 Tänzer, Choreografie: Libor Vaculik). Die Beziehung zwischen Frauen thematisierte das Ballett Dortmund: Risa Tateishi und Rosa Hernandez zeigten ein sehr ästhetisches Duett aus „Rossini Cards“ (Choreografie: Mauro Bigonzetti). All diese drei Ensembles tanzen im neoklassischen Stil. Das erwähnte Männer-Duett der Alpha Group integriert darüber hinaus mehr darstellerisch-expressive Elemente und kommt daher wesentlich emotionaler rüber.

Nachdem also diese Möglichkeiten des differenzierten Umgangs der Geschlechter durchdekliniert waren, kehrte das Tanztheater aus Kielce/Polen auf überholt geglaubte Grundpositionen zurück (Choreografie: Ira Nadja Kodiche): Männer sind dominierende Kraftprotze, Frauen sind sexualisierte Weibchen, die ihr Selbstbewusstsein offenbar aus hochhackigen, schwarze Lacklederstiefel beziehen (11 Tänzerinnen des Corps de Ballet). Zu wabernden Klangteppichen oder hämmerndem Techno-Sound agierten die drei Solistenpaare hoch engagiert, vor allem das Klettern, Springen und Sich-Hinwerfen der Tänzer nötigte Respekt ab. Der Beginn von „Metamorfozy“überzeugte zwar mit dem Bild von drei Paaren in Käfigen, die sich kraftvoll daraus befreien. Doch das Wieder-Einschließen der Frauen befremdete zutiefst, ließ sich aus dem Folgenden auch nicht erschließen. Da war offenbar ein anderes Gesellschaftsbild die Hintergrundfolie.

Den stärksten Einzelapplaus verbuchte das Solo „Enjoy the Pain“ von Stéphen Delattre vom Ballett Augsburg. Er schuf Choreografie, Musik, Ausstattung und Sprechtext. Auf tänzerisch einzigartige Weise transportiert er Gefühle wie Trauer, Schmerz und Verzweiflung bis zur Suizidalität, doch lässt er am Ende wieder Hoffnung aufkeimen.

Der Sonntagabend im TiL war den Choreografinnen der freien Szene vorbehalten, bei allen gehörte die Integration von Alltagsbewegungen dazu. Heidrun Stahl (Stahltanzwerk Lüneburg) tanzte mit der 12-jährigen Sarah Kneipp einen Ausschnitt aus „Welcome to Heaven“, in dem sie sich auf augenzwinkernde Weise dem Thema Sterben und Tod nähert. Melanie Clarke vom Laban Centre London zeigte ein Solo der Vertikalen, während die extrem biegsame Miranda Glikson (Gießen) ihre Improvisation in alle Richtungen des Körpers vollzog.

Melanie Venina (Valencia), eine sehr kleine und quirlige Tänzerin, hinterließ mit „Me voy ...? Y Ahora Que?“ („Ich gehe, und was dann?“) starken Eindruck. Wie sie sich aus einem großen Blumentopf befreit, dann jedoch mit den Füßen in der Erde bleiben will, sich sogar Erde in den Mund stopft, ist ergreifend. Umso mehr durch ihre raue Musikauswahl, die Rammsteins „Rheinreise“ ans heftige Ende setzt. Ein zu lang geratenes Schlussstück lieferten Naomi Lefebvre Sell and dancers (London), die sich mit „Dharmakaya“ auf die Suche nach dem buddhistischen „Wahrheitskörper“ und der „Verwirklichung von Leere“ machten.

Wegen Krankheit absagen mussten für den Sonntagabend das Ballett Görlitz und für den späten Samstagabend im Schlachthof die Compagnie Berkenhoff/Siegwald mit „Ile Flottante“. Dennoch war es ein spannendes und abwechslungsreiches langes Wochenende, das vom Team um Tarek Assam mit großem Einsatz organisiert wurde.

Die TanzArt ostwest wird in diesem Jahr noch in Koblenz (14.05.) und Görlitz (17.-20.07.) stattfinden, dann ist auch die Tanzcompagnie Gießen dort zu Gast.

 

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