Ungewöhnliche Einsichten

Die Hamburger Schulsenatorin bei John Neumeier - und dieser zu Gast beim „Talk im Elysée“

Hamburg, 09/10/2008

Es begann alles mit einer recht harmlosen Frage: „Mit wem würden Sie gern einen Tag lang den Job tauschen?“ wurde Hamburgs Schulsenatorin und Zweite Bürgermeisterin Christa Goetsch in einem Interview in „Focus“ (Ausgabe 17/2008) gefragt. Sie musste nicht lang überlegen: „Mit John Neumeier.“

Seit Jahren ist Christa Goetsch bekennender Fan des Hamburger Ballett-Intendanten und treue Premieren-Besucherin. Am 6. Oktober war es dann soweit: Von 10 bis 17 Uhr wich sie John Neumeier nicht mehr von der Seite, besuchte das Training der bemerkenswert gut gefüllten Theaterklasse der Jungen am Hamburger Ballett-Zentrum, gefolgt von weiteren Proben und der Vorstellung des „Tusch“-Projekts (Tanz und Schule), bei dem 11 SchülerInnen aus der 5. Klasse einer benachbarten Haupt- und Realschule zusammen mit dem Hamburg Ballett ein Stück einstudieren – für die Schulsenatorin natürlich ein besonders spannendes Unterfangen. Gespräche mit Solisten und Ersten Solisten sowie Ballettschul- und Internatsleitung rundeten den Vormittag ab. Spannend auch der Nachmittag. Hier wurde die Senatorin am Beispiel der Proben zu „L’après-midi d’un faune“ (in der Choreografie von Nijinsky) Zeugin, mit wieviel Arbeit bis hin in kleinste Details eine solche Einstudierung verbunden ist: Wo muss der Partner eine Tänzerin anfassen, damit sie gut in eine Hebung kommt? Welche Gestik ist die richtige, um genau das auszudrücken, was der Choreograf möchte? Wo muss eine Bewegung verzögert werden, wo kann sie eher gedehnt sein? Viele Details gilt es da zu bedenken und zu korrigieren, bevor alles so sitzt, wie es später auf der Bühne präsentiert werden soll. Und last but not least gilt es das Ganze auch noch mit Seele zu füllen.

Christa Goetsch war am frühen Abend, als die Politik sie dann doch wieder in die Pflicht nahm, tief bewegt: „John Neumeier hat es verstanden, ein großartiges Ballettzentrum aufzubauen. Ich war sehr beeindruckt von der Sensibilität, mit der er das Haus führt, und wie er mit den Mitarbeitern und Schülern arbeitet. Es herrscht dort ein kreatives Klima, und die Leistungen in den Ballettklassen sind grandios.“

Ganz neue Einblicke in seine Gedankenwelt gewährte John Neumeier dann überraschend einen Tag später beim „Talk im Elysée“ mit dem Journalisten und Autor Rafael Seligman, der schon gleich zu Beginn des einstündigen Gesprächs mit einem heiklen Thema ins Haus fiel: „’Mit 66 Jahren fängt das Leben erst an’ heißt es in einem bekannten Schlager – wie ist das für Sie?“

John Neumeier, 66 Jahre alt und sichtlich überrascht, aber um keine Antwort verlegen, öffnete die Tür zu seinem Inneren erstaunlich weit. In ganz privaten Momenten, z.B. beim Duschen, versuche er, die Wirklichkeit des Alters in sich zu finden, und er finde sie dennoch nicht. „Ich fühle mich heute nicht anders als früher, nur die Beine kann ich nicht mehr so hoch heben und ich kann auch nicht mehr so gut springen“, gesteht Hamburgs Ballett-Intendant. Vom Selbstgefühl her jedoch spüre er keinen Unterschied. Energie, Lust und Neugier seien die gleichen wie vor vielen Jahren. Aber natürlich frage er sich immer wieder: „Wie wird es enden, das Leben, die Arbeit? Wie nehme ich Abschied von diesem Ensemble und warum? Nur weil ein Vertrag zuende geht? Nehme ich jemandem, der nach mir kommen wird, etwas weg? Stehe ich im Weg? Das ist mir nicht klar, ich habe darauf noch keine Antwort.“

Bemerkenswert offene Worte zu einem höchst heiklen Thema. Neumeiers Vertrag läuft noch bis 2010. Alle gehen davon aus, dass er verlängert. Das Hamburg Ballett ist nach 35 Jahren Kontinuität ohne seinen Intendanten und Chefchoreografen gar nicht denkbar. Dass dieser sich bereits jetzt Gedanken macht um seine Nachfolge, ist deshalb umso erstaunlicher. Allerdings: Er könne sich gar nicht vorstellen, gesteht Neumeier, wie es wäre, wenn er die „Last“, das Ballettzentrum leiten zu müssen, los wäre.

„Einfach nur machen, was ich will – ich weiß gar nicht, wie das sein wird“, erklärte er. Nach diesem fulminanten Einstieg lenkte Seligman das Gespräch dann in ruhigere Fahrwasser. Die nahezu banale Frage, was einen Künstler ausmache außer Talent, beschied Neumeier kurz und eindeutig: „Das Wichtigste ist die Individualität, denn jeden großen Künstler gibt es nur ein einziges Mal.“ Aber auch der Gestaltungswille sei entscheidend. Es gebe Momente – z.B. bei der Kreation der Matthäus-Passion in den siebziger Jahren –, wo das Bedürfnis, ein Stück gegen alle Widerstände machen zu müssen, stärker sei als die Unsicherheit, ob er der Aufgabe auch gerecht werden könne: „Dieses Bedürfnis muss in mir sein, ich muss es so stark spüren, dass ich ein Stück eben nicht nicht machen kann.“ Das sei keine Frage von Mut, sondern von Unausweichlichkeit und Gefühl: „Ohne emotionalen Inhalt kann ich nicht choreografieren. Im Tanz ist das emotionale Erlebnis wichtiger als das Verstehen.“

Was Seligman ermutigte, einen weiteren heiklen Punkt anzusprechen: die Erotik. Man könne sie, sagte er, in den Neumeier-Werken kaum beschreiben, wohl aber fühlen. Was Erotik auf der Bühne für Neumeier bedeute? „Erotik ist ein Teil des Menschen, und Tanz als große Kunst stellt den Menschen in seiner Gesamtheit dar, auch mit seiner Erotik“, lautete die Antwort. Erotik müsse sich auf der Bühne bei Null beginnend aufbauen, und oft seien diejenigen Momente am erotischsten, denen man dies nicht sofort ansehe. In „Josephs Legende“ z.B. gebe es eine Stelle, wo der unschuldige, aber nicht keusche Joseph hinter Potiphars Weib steht, und wo sie – ohne dass sich beide ansehen – über fünf Minuten hinweg ganz langsam ihre Hand in seine Richtung hebt, als würde sie allein durch die Wärme von Josephs Körper geführt. Erst als sie seine Locken spürt, zieht sie die Hand weg.

Tanz habe etwas mit Suggestionskraft zu tun, sagte Neumeier abschließend. „Durch mich zeige ich Ihnen Bilder, die in mir leben. Sie als Zuschauer haben das gleiche Instrument zur Verfügung, die gleiche Menschlichkeit. Tanz ist die Verkörperung eines emotionalen Zustands, der übertragbar ist auf ein Publikum, und der am stärksten ist, wenn es um eine Aktion zwischen Menschen geht.“ Wenn er in Hamburg sei, gehe er in jede Vorstellung seiner Kompanie. Ständig prüfe er seine Werke auf Herz und Nieren: Ist noch wahr, was ich sehe? Ist es wert, angeschaut zu werden? Drei Faktoren sind dafür entscheidend: 1. Bei den Tänzern zu spüren, dass sie sich in dem erkennen, was sie darstellen, dass es ihnen ein tiefes Bedürfnis ist, eine Rolle zu verkörpern. 2. Dass das Publikum das Stück genießt, dass es still und involviert ist, und jeder sich wiedererkennt im Tanz. 3. Wenn Neumeier selbst überzeugt ist: „Ja, ich denke, so ist es gut.“ 

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