Reaktion auf die Angst des Vergessens

Ein Gespräch mit Heide-Marie Härtel vom Deutschen Tanzfilminstitut in Bremen – und ein Überblick über die deutschen Tanzarchive

Bremen, 09/11/2008

Tanz blüht auf im Augenblick seiner Performance, und wenn er verloschen ist, bleiben lediglich verwischte Spuren in unserer Erinnerung zurück. Da der Mensch aber seiner Natur nach ein bewahrendes, sich seiner geistig-kulturellen Errungenschaften stets vergewisserndes Wesen ist, versucht er seit jeher, diese fragile Erinnerung festzuhalten: in Bildern, Beschreibungen, Programmheften, in Tanznotationen und schließlich am wirksamsten mit den Mitteln von Film und Video. Die großen Horte dieser Erinnerungen sind die Archive, die jedoch längst nicht ihrer wertvollen Funktion entsprechend wahrgenommen und genutzt werden. Das Deutsche Tanzfilminstitut Bremen, eines der fünf aktiven deutschen Tanzarchive, 1988 gegründet von der Ex-Tänzerin, studierten Kulturwissenschaftlerin und Filmerin Heide-Marie Härtel, kann trotz ständiger harter Überlebenskämpfe immerhin sein 20jähriges Jubiläum feiern.

Redaktion: Frau Härtel, Sie haben schon während ihrer sieben Jahre als Tänzerin in Hans Kresniks Ensemble Proben und Premieren mit einer kleinen Doppel-8-Kamera gefilmt, damals aus arbeitstechnischen Gründen. Kresnik, der sichtlich mithalten wollte mit Kurt Hübners aufmüpfiger Regie-Garde Peter Stein, Peter Zadek, Klaus Michael Grüber und Faßbinder, war ja dabei, die kodifizierte klassische Basis aufzubrechen, hinter sich zu lassen ...

Heide-Marie Härtel: So wie er „Schwanensee“ zertrümmerte, mussten seine Schritte – ohne praktikable Notationsmöglichkeit – praktisch „von Bein zu Bein“ von einer Tänzergeneration an die andere weitergegeben werden. Jeder von uns musste Verantwortung für sein eigenes Bewegungsmaterial übernehmen. In seinem „Kriegsanleitung für jedermann“ standen wir mit Holzgewehren auf der Bühne! Der Tanz damals lernte mitzukämpfen gegen den Kriegswahn in Vietnam, die Zustände in den Gefängnissen oder den allgegenwärtigen Konsumrausch. Kresnik warf uns seine Bewegungen allzu oft in großer Geste hin, ging davon aus, dass wir sie am nächsten Tag parat hätten. Wir Tänzer wurden da unversehens zu Mit-Autoren. Jedenfalls bekam die Probenkamera eine ganz wichtige Bedeutung. Außerdem war das Abfilmen auch eine Art Selbstbehauptung, eine Reaktion auf die Angst des Vergessens. Unsere Stücke wurden ja immer nur 10 bis 15 mal gespielt, es gab keine Repertoirebildung wie im klassischen Ballett.

Redaktion: War Ihnen denn damals die wichtige historische Dimension Ihres Dokumentierens bewusst?

Heide-Marie Härtel: Die erste Vision eines Tanzfilminstituts entstand schon zu diesem Zeitpunkt. In der Tanzakademie in Köln in den 60er Jahren waren wir zwar mit den wunderbaren Tanzbüchern von Kurt Peters gefüttert worden, der ja auch das Deutsche Tanzarchiv Köln gründete. Aber bewegte Bilder fehlten und so auch die Möglichkeit, die Geschichte des Tanzes vor unserer Zeit kennenzulernen.

Redaktion: Und dann haben Sie einfach weitergefilmt ...

Heide-Marie Härtel: Die Arbeiten von meiner Ex-Kollegin Reinhild Hoffmann und die von Gerhard Bohner – die beiden übernahmen im Duo 1979 die Bremer Tanz-Leitung –, die Arbeiten von Susanne Linke fürs Essener Folkwangstudio. Es ging weiter mit Linke und Urs Dietrich, die ein paar Jahre gemeinsam das Bremer Tanztheater leiteten. Kontinuierlich begleitet habe ich auch Henrietta Horn, Joachim Schlömer, Stephan Toss, Anna Huber und das Berliner Duo Rubato, sporadischer aber auch viele andere. Seit 12 Jahren zeichne ich regelmäßig dieses große Choreografentreffen „Tanzplattform Deutschland“, auf. Daraus allein ist bis jetzt ein Pool von 120 gefilmten Stücken angewachsen.

Redaktion: Das heißt, Sie haben so gut wie die gesamte deutsche Tanzszene der letzten zwei Jahrzehnte dokumentiert.

Heide-Marie Härtel: Auf über 20.000 Videobändern. Das sind komplett gefilmte Stücke, Tänzer- und Choreografen-Porträts, Tanz-und Tanzspiel-Filme, Filmaufnahmen von Kongressen, Festivals und Tanzprojekten in Schulen. Jährlich kommen 40 deutsche Tanz-Premieren dazu. Und dieses gesamte Material ist jederzeit für Besucher einsehbar.

Redaktion: Kommt Ihnen die konkrete Tanzerfahrung zugute?

Heide-Marie Härtel: So schnell läuft mir kein Tänzer aus dem Bild. Ich schneide auch bei der Hebung im Pas de deux keiner Tänzerin die erhobenen Arme ab. Und schnell zu erkennen, welche „Redewendungen“ welcher Choreograf bevorzugt, eine Wiederholung vorauszuahnen, wo ich dann schnell auf Naheinstellung gehen kann, das hilft schon sehr. Und wenn ich ein Training mitten im Ballettsaal filme, wissen die Tänzer, dass ich ihnen bei den großen Sprüngen über die Diagonale nicht in die Quere komme.

Redaktion: Und Sie haben sich das Metier ganz selbst beigebracht?

Heide-Marie Härtel: Das hat sich ganz organisch entwickelt. Als ich 1979 Gerhard Bohners Rekonstruktion von Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ aufzeichnete, haben die kleinen Kameras wegen der zu großen Distanzen in der Frankfurter „Alten Oper“ nicht hingereicht. Also habe ich mit den fernbedienbaren Überwachungskameras des Theaters von der Tonregie aus gefilmt. Dann kam auch die neue Technik dazu. Das „Videographieren“, sich so in den Besitz der eigenen Geschichte zu bringen, das war ja in den frühen 70er Jahren das Abenteuer aufgeklärter, politisierter Studenten. Die „Portapaks“ von Sony erlaubten eben kostengünstig die Abbildung von Realität ohne diesen ständigen umständlichen Filmwechsel der Doppel-8-Amateurkamera. Und das Schneiden und Texten, das ich anfangs an Fachleute delegiert hatte, habe ich dann auch noch selbst übernommen. Für bestimmte Projekte arbeite ich allerdings mit Film- und Fernseh-Profis zusammen, und von denen lerne ich wieder Neues.

Redaktion: Ihr Institut ist seit der Gründung immer wieder und gerade im Augenblick existenzgefährdet. Dabei war doch der Umzug des TaFI 2004 ins völlig renovierte ehemalige alte Bremer Polizeihaus so hoffnungsvoll.

Heide-Marie Härtel: Das war wie ein Traum, 300 qm auf zwei Etagen, was ein ganz anderes Arbeiten ermöglicht. Aber um die gesteigerten Unkosten zu zahlen, das heißt: die Hälfte der Miete, die Aufarbeitung von ca. 1000 jährlich neu hinzukommenden Tapes und die Dokumentation von etwa 20 neuen Bühnenstücken plus die Basisbetreuung der Besucher unserer Präsenz-Videothek, brauchen wir monatlich eine Förderung von 18 000 Euro. Die Stadt Bremen schießt jetzt etwas zu. Gerettet wären wir, wenn der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien die noch monatlich fehlenden 4000 Euro beisteuern würde. Leider bekomme ich zur Zeit weniger Aufträge von 3sat, arte und ZDF, durch die ich bislang auch immer eigene Mittel erwirtschaftet habe.

Redaktion: Zur Verbesserung ihrer Situation haben sich im Frühjahr 2007 nun fünf aktive Sammlungseinrichtungen zum „Verbund Deutsche Tanzarchive“ zusammengeschlossen. Das Bundesfördermodell Tanzplan Deutschland (TPD) betätigt sich für diesen Verbund zumindest als Moderator und Verhandlungspartner von potentiellen Förderern. In Ihrem gemeinsamen „Aufruf“ heißt es unter anderem: „Mit Ausdruckstanz, Kinetographie und Tanztheater hat Deutschland der modernen Lebenswelt bis heute wirksame Impulse gegeben ... Es gilt, die Vielfalt der Bestände, Sammlungsformen und -geschichten, wie sie die bestehenden Institutionen bieten, zu bewahren. Und es gilt auch, eine gemeinsame Plattform zur Forschung, Ausbildung, Kunst- und Wissenschaftsproduktion aufzubauen.“ Wie?

Heide-Marie Härtel: Mit einem gemeinsamen Internetportal. Ein solcher zentraler Bestandsnachweis würde endlich den Zugang zu Quellenmaterial erleichtern. Dann sollten wir eine fundierte Aufarbeitung der deutschen Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts bieten können. Weitere gemeinsame Aufgaben wären Restaurierung und Digitalisierung gefährdeter wichtiger Sammlungsteile. Die Klärung von Urheberrechten. Das Auffinden und Einbinden von Archivbeständen, die passiv in Kellern lagern, von privaten Sammlern, Theatern und Fernsehanstalten. Besonders wichtig wäre jetzt die Unterstützung der Bundeskulturstiftung und des Ministeriums für Kultur und Medien für unser Intranet-Projekt „Dance on Demand“, das wir gemeinsam mit dem Goethe-Institut Singapur und der National Library of Singapur machen können. Das ist eine digitale audiovisuelle Datenbank mit rund 100 Stunden Filmmaterial, 4000 Fotos und 400 Texten zu Tanz und seiner Geschichte in Deutschland. Bis jetzt kann man darauf nur direkt beim TaFI darauf zugreifen oder bei unserem Co-Produzenten, der International Library Singapur.

Redaktion: Und wer profitiert von einer solchen Vernetzung und Verdichtung?

Heide-Marie Härtel: Studenten, Tanzwissenschaftler, Publizisten, Pädagogen, Tänzer, Choreografen, also die Tanzschaffenden wie auch alle, die die kulturelle Bildung vorantreiben. Nicht zuletzt die Archive selbst.

Redaktion: Sie nehmen gerade die Mammutarbeit auf sich, einen Film über die fünf Archive zu machen. Was ist spezifisch für welches Archiv?

Heide-Marie Härtel: Der Film wird übrigens im Januar 2009 beim „Tag der Tanzarchive“ gezeigt, im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Der politische Körper“ in der Berliner Akademie der Künste, möglicherweise später einmal auf arte. Der Schwerpunkt des Tanzarchivs Köln ist die Bewahrung von Nachlässen, Programmheften, also jeglicher Form von Tanzzeugnissen, vor allem auch ein riesiges Fotoarchiv und eines für das spezielle Genre „Videotanz“. Das Tanzarchiv Leipzig e. V. steht in enger Verbindung mit dem tanzwissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig. Von dort kommen wesentliche Impulse zur Analyse von Tanz und zur Weiterentwicklung der Tanzwissenschaften. Ein Schwerpunkt ist die DDR-Bühnentanzgeschichte. Das Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste in Berlin ist eine Mitglieder-zentrierte Sammlung, erfasst also die Materialien von Intendanten, Choreografen, Tänzern usw. Man kann dort nicht nach einer Stilrichtung suchen, sondern unter dem Vertreter einer Kunstform, einer Stilrichtung. Gerade jetzt hat man mir zum Bearbeiten 355 Bänder mit Materialien zu Hans Kresnik übergeben. Kresnik ist zwar noch nicht Mitglied, aber diese von uns gesichteten und auf dem Stand der Technik überspielten Bänder gehen dann an die Akademie. Das MimeCentrum Berlin dokumentiert hauptsächlich das Tanzleben Berlins. Die Filme sind professionell gemacht, aber nicht für eine Veröffentlichung im Fernsehen gedacht. Es ist eher eine Videothek, die sich als Serviceleistung für die Berliner Tanzschaffenden versteht.

Link: www.deutsches-tanzfilminstitut.de Die vier anderen Archive im Überblick: Deutsches Tanzarchiv Köln 1948 von Kurt Peters als Tanzsammlung begonnen, 1985 von der SK Stiftung Kultur der Stadtsparkasse Köln und der Stadt Köln erworben. Widmet sich verstärkt der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Zeugnissen der Tanzkunst (zum Teil Tänzer-, Choreografen- und Kritiker-Nachlässe) und macht diese in Publikationen und Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich.

www.sk-kultur.de/tanz/ Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin 1951/52 begonnen, heute als staatliche Institution neun Abteilungen umfassend: Bildende Kunst, Baukunst, Musik, Literatur, Darstellende Kunst, Film, Historisches Archiv, Kunstsammlung und Bibliothek. Fortgesetztes Sammeln in den Bereichen Sprech- und Musiktheater, Tanz, Kabarett, Theaterwissenschaft und Theaterkritik. Schwerpunkt: die Bestände von Akademie-Mitgliedern wie z. B. Mary Wigman, Gret Palucca, Tatjana Gsovsky, Gert Reinholm und Reinhild Hoffmann.

www.adk.de/de/archiv/archivbestand/darstellende-kunst/ Tanzarchiv Leipzig e. V. 1957 gegründet von Kurt Petermann als Sammlung traditionell überlieferter Folklore, 1977 als Außenstelle dem Archiv der Künste der DDR angegliedert und in Folge erweitert zu einer Forschungs- und -Dokumentationsinstitution für jede Art von Tanz und Bewegungskultur.

www.tanzarchiv-leipzig.de MimeCentrum Berlin 1990 gegründet, Träger „Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz“ , setzt den Fokus auf den Ausbau einer öffentlichen Mediathek für zeitgenössischen Tanz, physical theatre und Schauspiel. Die Bestände sind über eine neue Datenbank online recherchierbar. Das MCB arbeitet innerhalb der europäischen Informationsnetzwerks ENICPA mit an einer europaweiten Sichtbarmachung des kulturellen Gedächtnisses des Tanzes. www.mimecentrum.de 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern